Abschaffel
Zerstörung angekämpft habe. Aber vielleicht stimmt deine Erinnerung nicht, sagte Barbara; vielleicht haben dich deine Eltern zerrüttet, und du hast immer nur gedacht: Macht nur weiter so, besser jetzt als später. Margot lachte hell aus dem Badezimmer heraus. Sogar Abschaffel lachte leicht; so etwas hatte er noch nie gehört. Trotzdem war es ihm nicht möglich, sich in die Spur dieses Gesprächs zu setzen. Er überlegte, was er sagen könnte, und das Nachdenken stärkte seine Befangenheit. Auch hatte er das Gefühl, Barbaras Gesprächsführung nicht standhalten zu können. Und während er in seinem eigenen Kopf versank, redeten Margot und Barbara bereits wieder über Frisuren und Kleider. Er konnte kaum begreifen, wie sie es fertigbringen konnten, nun wieder über Haare und Stoffe zu sprechen. Barbara erklärte Margot eine neue Frisur. Du nimmst eine kleine Rundbürste und rollst die nassen Haare in kleinen Büscheln darüber und fönst sie in Form. Dazu sind meine Haare zu lang, sagte Margot. Vielleicht sind sie eine Idee zu lang. Außerdem sind meine Haare hart und störrisch, sagte Margot. Das macht nichts, sagte Barbara. Ich werd’s mal versuchen, sagte Margot. Bist du fertig? fragte Barbara. Wir müssen noch einmal ins Büro und ein paar Check-ins machen, sagte Margot zu Abschaffel, gehst du mit? Anschließend wollen wir ins Kino, sagte Barbara. Ich bin eine Stunde lang in der Stadt herumgelaufen, sagte er, ich bin müde. Warum läufst du so lange in der Stadt herum? fragte Margot. Ich muß mich soweit bringen, sagte er, bis mein Kopf wieder wirklich mir gehört, und das gelingt mir am besten dadurch, wenn ich mich zerstreue. Er fand, das hatte er gut gesagt. Also du gehst nicht mit, fragte Margot noch einmal. Lieber nicht, sagte er. Barbara stand schon an der Tür und öffnete sie. Abschaffel verließ an der Seite von Margot die Wohnung. Auf der Straße setzten sich Barbara und Margot in einen Mietwagen. Abschaffel stand auf dem Gehweg und sah in den Wagen. Margot legte sich den Sicherheitsgurt quer über die Brust. Barbara fuhr vorsichtig aus der Parklücke heraus.
Es war noch Zeit, und Abschaffel betrat in Sachsenhausen ein kleines Kaufhaus und kaufte sich ein Hemd. Er stellte es sich als hilfreich vor, das Hemd zu Hause auszupacken, all die Nadeln herauszuziehen, dazu die Pappstreifen und Kragenverstärkungen zu entfernen und das Hemd am Ende vielleicht anzuziehen. Rasch verließ er das Kaufhaus und ging über die Mainbrücke zurück in die Innenstadt. Er wollte nach Hause und sich beruhigen. Er ahnte, daß er sich bei Margot nicht richtig verhalten hatte. In seinem Hals spürte er einen unzufriedenen Reiz, eine kehlige Behinderung, die ihm anzeigte, daß er verspätet reagierte. Er beschloß, zu Hause viel zu essen, damit sein Körper in eine leichte Betäubung verfiel und bald einschlief. In einer Metzgerei mit Mikrowellenerhitzer kaufte er sich ein paniertes Schnitzel. Es dauerte nur fünf oder sechs Minuten, bis der Mikrowellenerhitzer das Schnitzel fertig hatte. Die Verkäuferin wickelte es in Folienpapier ein, in dem es sich etwa zwanzig Minuten lang warm hielt. Bis dahin war er längst zu Hause. Kaum aber hatte er die Metzgerei verlassen, verspürte er Lust, das Schnitzel sofort zu essen. Aber das Essen auf der Straße war noch immer ein Angriff auf das, was er einst von den Eltern gelernt hatte: Gegessen wird zu Hause. Das Essen bei ihm in der Küche war ein letzter, manchmal noch heute wirksamer Rest des alten Lebens bei den Eltern, und gerade solchen Resten ergab er sich mit unklarer Hingabe. Er ließ das Schnitzel in der Folie und beeilte sich statt dessen, noch in die Bäckerei zu kommen. Wenn er nach dem Schnitzel noch immer Hunger hätte oder noch nicht richtig betäubt war, würde er außerdem noch ein Brötchen und ein Stück Torte nachschieben. Außerdem wollte er die Bäckerstochter wieder einmal sehen. Der Anblick ihrer weißen und schläfrigen Haut würde ihn vielleicht trösten.
Statt dessen versetzte ihn der Anblick der ganzen Bäckerei in Erstaunen. Der Inhaber hatte seine alte Inneneinrichtung gegen eine neue eingewechselt. Alles war anders geworden. Die alten Brotregale mit den Holzstäben gab es nicht mehr. Dafür hatte sich der Bäcker Regale aus orangeroten Preßplatten hinstellen lassen, deren oberste Abschlußkante eine indirekte Beleuchtung verbarg. Die alte Kundentheke aus Holz war ebenfalls verschwunden. An ihrer Stelle stand eine große Glastheke, die wie ein
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