Abschaffel
ansprechen lassen, sondern in ein geschlossenes Haus gehen. Er war dann wenigstens sicher, mit dem Mädchen später dann wirklich allein zu sein.
Um vier Uhr machte er sich auf den Weg. Mit der U-Bahn fuhr er bis Theaterplatz. Von dort schlenderte er in die Bahnhofsgegend. Schon hier wunderte er sich über die Stille der Stadt. Er sah an den Hochhäusern der Banken hoch und hatte wieder die Vorstellung, wenn die Hochhäuser eines Tages zusammenstürzten, dann sackten sie sicher nicht in sich selbst ein, sondern kippten um und schlugen der Länge nach in die Straßen. Aber wahrscheinlich kippten sie nie um, sondern wurden immer höher und fester. Die Stille wirkte sich nicht gut aus auf seinen Plan. Wenn ringsum nichts geschah, konnte auch er sich nicht vorkommen wie ein Mann, der soeben den zweiten Versuch unternahm, sich von der Arbeit zu befreien. Er hatte vergessen, daß er noch am frühen Vormittag genau das Gegenteil von der Stille gedacht hatte. Nun fehlten ihm die Ströme der in diesen Straßen gewöhnlich umherlaufenden Menschen, die zur Arbeit gingen oder von ihr kamen. Es fehlte ihm der Anblick der eleganten Kleinbetrüger, die ihren Körper schräg stellten, damit sie schneller zum Bahnhof kamen, und manchmal ihre flachen dynamischen Stahlkoffer vor sich herführten wie ein Messer, das ihnen Platz schaffen mußte. Weil Abschaffel jetzt wieder nicht wußte, was er von sich selbst, den Verhältnissen und seinem Plan halten sollte, steigerte sich seine Verwirrung. Er fühlte sich wie ein Mann, dem sich soeben an beiden Schuhen die Schnürsenkel geöffnet haben. Und er empfand, daß die Verwirrung nur eine Vorstufe der Angst war. Er überlegte eine Weile, ob er seinen Plan nicht doch aufgeben sollte. Er überlegte es und überlegte es noch einmal, und er wußte, daß er soeben eine Menge Verwirrung ausgehalten hatte, die den Weg frei machte für die Angst, die nun anrollte und sich über ihn legte wie ein alter Teppich. Mit zwei ausgestreckten Fingern fühlte er sich in die Hemdtasche und prüfte nach, ob sein Geld noch da war. Es war noch da, und er war erleichtert. Er hatte sich einen Fünfzig-Mark-Schein, drei Zwanziger und drei Zehner in die Hemdtasche gesteckt. Die Brieftasche hatte er zu Hause gelassen. Er wollte für alle Fälle präpariert sein. Den Fünfziger brauchte er für den Anfang; je nachdem, was sich ergab, würde er passend nachzahlen können. Jedenfalls glaubte er, weitgehend die Möglichkeit ausgeschlossen zu haben, daß ihm noch einmal so ohne weiteres Geld abgenommen werden konnte.
Aber je näher er den Bordells kam, desto größer wurden seine Erregung und seine Angst. Als er auch noch einen trockenen Mund bekam, noch ehe er überhaupt ein einziges Haus betreten hatte, beschloß er, den zweiten Versuch kurzfristig zu verschieben. Er mußte sich erst beruhigen. Es war entsetzlich. Konnte er denn nicht mehr in ein Bordell gehen, wann er wollte? Früher, das heißt, noch vor eineinhalb Jahren, war das doch alles anders gewesen. Er überlegte, ob er in ein Pornokino gehen sollte, von denen es hier viele gab, oder ob es nicht besser war, einfach eine Stunde im Bahnhof spazierenzugehen. Er wollte beides tun. Für sechs Mark kaufte er sich eine Eintrittskarte für ein Pornokino. Eine alte Platzanweiserin ließ ihn eintreten. Er setzte sich weit nach hinten auf einen Platz dicht am Ausgang, weil er wußte, daß er es hier nicht lange aushielt. Es waren nur wenige Männer im Kino. Als sich seine Augen an das Dunkel gewöhnt hatten, kam er bei zwei Zählungen jedesmal auf zwölf Zuschauer. Einer der Männer hatte sogar seinen Hut aufbehalten. Gezeigt wurden Filme von acht bis zehn Minuten Dauer. Abschaffel sah einen Film über eine Haushälterin, die die Familie, bei der sie arbeitete, sexuell komplett bediente. Der Mann, die Frau, die Tochter und der Sohn, alle durften sie mit ihr, und wer nicht mehr konnte, wurde manuell von der Haushälterin versorgt. Eines Tages kam der Sohn auf die Idee, daß die hervorragende Haushälterin ein Recht darauf habe, selbst einmal bedient zu werden. Am nächsten Tag brachte der Sohn ein paar Freunde mit, und die Haushälterin frohlockte. Die Freunde des Sohnes legten die Haushälterin auf den Tisch, und sie ließ sich der Reihe nach und freudig stöhnend von fünf Männern vögeln. Dafür war sie der Familie dankbar und arbeitete fröhlich weiter. Den nächsten Film sah sich Abschaffel nicht mehr an. Er rumpelte aus dem Kino und ging zum Bahnhof. Er lief zu den
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