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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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antwortete nicht. Hannover? fragte er. Er war ausgezogen und legte sich auf die Liege. Ich kann es nicht erraten, sagte er. Sie zog ihm ein Präservativ über und begann sein Geschlecht zu bewegen. Aus der Schweiz komme ich, sagte sie. Aus der Schweiz? fragte er ungläubig zurück und verstummte. Jetzt sagst du nichts mehr, sagte sie. Sie hatte recht, er sagte nichts mehr. Sie hatte nicht den geringsten schweizerischen Anklang in ihrer Stimme. Abschaffel konnte sich nicht darüber beruhigen, daß diese Tamara die Lügen gleich serienmäßig ausstieß. Will sie mir zeigen, überlegte er, daß sie nicht den geringsten Anlaß hat, mir irgend etwas Wahrhaftiges zu sagen, schon gar nichts über sich selbst? Und wahrscheinlich hofft sie, dachte er, daß ich das bemerke und freiwillig aufhöre, irgendwelche Gespräche mit ihr zu führen. Ehh, rief sie plötzlich in die Stille, was ist denn mit dir los? Schläfst du? Tatsächlich hatte er aus Verzweiflung und Wut eine Weile die Augen zugekniffen und den Kopf zur Seite gedreht. Er öffnete die Augen und wandte sich ihr zu, aber er war sprachlos geworden. Bist du müde? fragte sie; soll ich es dir mit der Hand machen? Ja, sagte er abwesend, mach irgend etwas. Ich bin wieder an die Falsche geraten, dachte er resignierend. Rasch ergoß sich der Samen in das Präservativ. Sofort ließ sie ihn in Ruhe und stand auf. Er erhob sich ebenfalls und zog sich langsam an. Sie trat vor ein kleines Schränkchen und öffnete es. Sie holte ein Notizbuch heraus und trug mit dem Bleistift etwas ein. Schreibst du dir auf, was du eingenommen hast? fragte er. So ist es, sagte sie. Sie verschloß das Notizbuch und setzte sich nackt über ein Bidet und reinigte sich das Geschlecht. Es war das erste Mal, daß er so etwas sah. Er beobachtete sie, aber sie genierte sich nicht. Dann trocknete sie sich ab und stellte sich in der Art eines Wächters an die Tür. Abschaffel beeilte sich, und er schwieg wie sie. Nach einer Minute war er auf der Straße.
    Er hatte Durst, und er betrat eine kleine Imbiß-Bar und bestellte eine Cola. Danach wollte er sofort nach Hause. Der Mann hinter der Theke stellte ihm eine Dose Cola und einen Plastikbecher hin. Er riß den Verschluß der Dose auf und trank sofort. Durch das heftige Trinken zog sich seine Oberlippe leicht in die Öffnung der Dose hinein. Die Öffnung hatte die Form einer kleinen Birne, und sie wirkte wie ein kleiner Eisenmund vor seinem richtigen Mund. Als er bemerkte, daß ihn die Dosenöffnung zwang, langsamer zu trinken, zahlte er rasch und ging. Noch immer empfand er Verdruß über das Mädchen, das er nun eine Drecksnutte nannte. Er lief planlos in Richtung Stadt. Es begegnete ihm ein lächerlicher Mann mit Perücke, der jeder entgegenkommenden Person ängstlich ansehen wollte, ob sie bemerkt hatte, daß er eine Perücke trug. Auf seiner neuen Hose entdeckte Abschaffel eine schwarze Wollfussel, und obwohl er sah, daß es nur eine Wollfussel war, hielt er sie für eine Weile für ein kleines Tier, für einen Käfer vielleicht, der Befriedigung dabei empfand, den Geruch seiner neuen Hose einzuatmen. Er nahm die Wollfussel in die Hand, und obwohl er nun Gewißheit hatte, daß es nur eine Wollfussel war, fingerte er vorsichtig an dem Material herum, um zu prüfen, ob es vielleicht nicht doch ein Tier war, das die Wollfussel nur geschickt als Tarnung verwendet hatte. Er dachte noch immer an die Drecksnutte. Noch niemals war er von einem Menschen so komplett belogen worden wie von ihr. Er hatte Lust, diese Tamara zu beleidigen, und er stellte sich vor, wie er mit ihr zu Hause am runden Tisch saß und Kaffee trank. Die Sonne schien in das Zimmer auf das helle Tischtuch, und Tamara breitete eine Menge Kinder- und Jugendfotos aus, die sie ihm mitgebracht hatte. Er sah sie als Kindergartenmädchen mit langen Zöpfen, als frische Schulanfängerin mit einer Tüte voller Süßigkeiten, dann als Zwölfjährige mit ihren Eltern bei einem Nordseeurlaub. Er wollte die alten Fotos in die Hand nehmen und dann langsam zu ihr sagen: Wer hätte gedacht, daß aus so einem braven und lieben Mädchen eines Tages eine miese Nutte wird?
    Er mußte auf die Toilette, und er fuhr mit der Rolltreppe runter in die B-Ebene. In der Toilette stellte er sich neben einen Automaten mit Präservativen und las auf einem aufmontierten Schild die Inschrift AUSRAUBUNG ZWECKLOS! AUTOMAT WIRD JEDEN TAG GELEERT. Die Inschrift stimmte nur für den unwahrscheinlichen Fall, daß der Automat

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