Abschaffel
Tourist mißverstanden werden wollte. Obwohl es noch taghell war, waren die Leuchtschriften der Bars schon eingeschaltet. Gutgekleidete Herren liefen in Rudeln umher und sahen sich die Fotos in den Schaukästen der Bars an. Es war ihnen anzumerken, daß sie von auswärts kamen und noch nie in einer großen Bar gewesen waren und wahrscheinlich auch heute in keine reingingen. Manchmal blieben sie vor einer offenen Tür stehen und genierten sich nicht, in der Manier von Schulkindern von draußen in eine Bar hineinzusehen. Abschaffel war froh, sich keinen neuen Anzug gekauft zu haben; sonst hätte er diesen Herren vielleicht allzu ähnlich gesehen. Wo kamen die denn wieder alle her? War wieder eine Textilmesse im Gange oder ein internationaler Automobilsalon? Am liebsten hätte Abschaffel alle Bordelle für auswärtige Besucher gesperrt. Diese angereisten Männer standen in Gruppen an den Ecken, feixten die Mädchen an und flüsterten ihnen beim Vorbeigehen Schweinereien ins Gesicht. Einige der Frauen schämten sich und verließen ihre Stehplätze an den Hauswänden. Und die Männer lachten ihnen mit ihrer blöden Reisebusmentalität hinterher. Wie sie sich wieder aufführten, wenn sie außerhalb ihrer Kontrollatmosphäre waren! Immerhin bemerkte Abschaffel, daß ihn seine Reaktionen schon zu einem heimlichen Beschützer der Mädchen gemacht hatten. Er fühlte so, als hätte er sich eines der Mädchen bereits angeeignet.
An einer Ecke sprach ihn ein Mädchen an. Er war so verblüfft darüber, daß er nicht richtig reagieren konnte. Er war noch mit seiner Wut auf die Bordellspießer befaßt. Das Mädchen trug einen schwarzen Pulli und einen schwarzen Rock. Sie sah nicht aus wie eine Chefsekretärin, aber auch nicht wie ein rosa Teddybär. Sie war nicht geschminkt, und ihre Haare waren nicht gefärbt. Gehst du mit? flüsterte sie, und er sah sie verdattert an und ging weiter. Sie gefiel ihm, und er ärgerte sich, daß er weitergegangen war. Er ging und ärgerte sich und fragte sich, warum er nicht umkehrte. Da blieb er stehen und drehte sich um und sah, daß nun zwei kleine dunkle Männer bei ihr standen. Aus ihrem Verhalten schloß Abschaffel, daß die beiden nicht wirklich etwas von ihr wollten. Er beschloß, in eine Imbißstube gegenüber zu gehen und das Mädchen eine Weile zu beobachten. Er war ganz unsinnig aufgeregt, und aus Aufregung aß er eine Bratwurst und trank ein Glas Bier. Von hier aus konnte er weite Teile der Weserstraße überblicken. Die beiden kleinen Männer hatten das Mädchen schon wieder verlassen. Abschaffel bemerkte, daß die Frau nicht jeden Mann ansprach. In der Imbißstube aßen ein paar stille Ausländer zu Abend. Abschaffel sah den Leuten in die Gesichter, die draußen vorbeiliefen, und die Leute sahen auf die Bratwurst, die er sich in den Mund steckte. Abschaffel beobachtete einen Mann, den er für einen Zuhälter hielt. Je länger er ihn beobachtete, desto lächerlicher fand er ihn. Während er sich im stillen über den Mann lustig machte, fiel ihm merkwürdigerweise nicht ein, daß der Mann das schon war, was Abschaffel erst noch werden wollte. Der Mann stand draußen auf dem Gehweg. Er sah aus wie ein vermögend gewordener Wellensittich. Er war klein und dick und hatte ein müdes, herunterhängendes Gesicht. Er trug einen leichten hellbraunen Ledermantel; den Gürtel hatte er vorne nicht geschlossen. Unter dem empfindlichen Ledermantel sah Abschaffel eine enge Pepitahose, und über weißen Schuhen baumelte je ein Goldkettchen. Der Mann war braungebrannt und spielte mit seinem Gürtelende. Während der Beobachtung des Zuhälters hatte sich Abschaffels Aufregung abgedämpft. Das Mädchen stand noch immer auf der anderen Straßenseite. Abschaffel verließ die Imbißstube und lief noch einmal an ihr vorbei.
Gehst du mit? fragte sie wieder, und er blieb stehen. Wieviel möchtest du? fragte er. Fünfzig, sagte sie. Gehn wir, sagte er. Sie drehte sich um, und er folgte knapp hinter ihr. Nach zwanzig Metern ging sie in eine Haustür. Ein langer Gang führte wie ein Schlauch durch das Haus hindurch. Am Ende war eine Treppe und oben am Ende der Treppe öffnete sich ein kleiner Flur mit mehreren Türen. Eine der Türen führte zu ihrem Zimmer, das überraschend gut eingerichtet war, nicht schäbig und nur wenig verkitscht. Auf einem kleinen Zimmerautomaten drückte sie mehrere Tasten. Als Musik im Zimmer ertönte, bekam Abschaffel Angst. Es war, als wäre noch jemand im Zimmer, der sich bloß gut
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