Abschaffel
er noch in die Richtung starrte, beobachtete er bereits einen entgegenkommenden Bundesbahnbeamten, der seine Mütze abgenommen hatte. Abschaffel war fasziniert von den verschwitzten blonden Haaren des Bundesbahnbeamten. In den Haaren hatte sich der ringförmige Abdruck der Mütze abgebildet. Mit einem riesigen Taschentuch fuhr sich der Beamte über den Kopf. Er ging zu den Schließfächern an der Nordseite, und Abschaffel folgte ihm. Der Beamte ging auf eines der Fächer zu und wurde von den Polizisten nicht kontrolliert. Sie kannten sich untereinander, und sie hoben kurz die Hände. Der Bundesbahnbeamte öffnete das Schließfach, legte seine Dienstmütze hinein, schloß das Fach und ging weiter. Abschaffel war ihm dicht auf den Fersen. War es möglich, daß der Beamte keine Gelegenheit für die Ablage der Mütze hatte und deshalb gezwungen war, sie in einem Schließfach unterzubringen, wenn er zu sehr schwitzte? Oder durfte er die Dienstmütze vielleicht gar nicht ablegen? Wenn er sie einschloß, so daß niemand sie sah und entdeckte, konnte er immerhin behaupten, er hätte sie in einer entfernten Dienststelle liegengelassen. Dann würde ihm niemand zumuten können, in der Hitze und bloß der Mütze wegen noch einmal zurückzugehen, und so erreichte er immerhin für eine Weile, ohne Mütze sein zu dürfen. Auf dem Rückweg würde er die Mütze einfach wieder herausholen. Allerdings hatte in die vorübergehende Befreiung von der Dienstmütze genau eine Mark fünfzig gekostet; soviel mußte für eine Aufbewahrung in die seitlichen Münzschlitze eingeworfen werden.
In Höhe von Gleis 12 glitt der Bundesbahnbeamte aus Abschaffels Blick. Abschaffel entdeckte nichts mehr, was er noch beobachten konnte. Er war ruhig geworden und schlenderte aus dem Bahnhof hinaus. Unterwegs kaufte er sich eine Tüte Erdnüsse und eine kleine Tafel Schokolade. Er riß beide Packungen auf und begann, Schokolade und Erdnüsse gleichzeitig zu essen. Die gleichmäßige Bewegung des Kauens erhöhte sein Ruhegefühl. Wenn er das Salz der Erdnüsse zu stark auf der Zunge schmeckte, schob er ein wenig Schokolade nach, um einen anderen Geschmack zu bekommen. Er fühlte sich gut, und er beschloß, in das erstbeste Haus zu gehen. Weil er noch Schokolade übrig hatte, überlegte er, ob er dem Mädchen den Rest anbieten sollte. Er kam wieder davon ab und ging, weil er immer noch Schokolade hatte, noch einmal um den Block herum. Dann putzte er sich die Finger ab und den Mund und betrat in der Taunusstraße die Halle eines gewöhnlichen Bordells. Er war überrascht. Die Halle war fast leer. Er sah nur vier oder fünf Mädchen und höchstens drei Männer, die langsam zwischen den Säulen und den Mädchen umherschlurften. Er blieb stehen und blickte auf eine schwarzhaarige Frau, die nicht geschminkt war. Sie gefiel ihm, und sie lachte ihn an, sagte aber nichts. Erst als er bis auf einen halben Meter vor sie hingetreten war, fragte sie: Gehst du mit? Ja, sagte er, ich lauf jetzt schon eine Stunde lang umher, um dich zu treffen. Sie lachte. Was willst du haben? fragte er. Fünfzig, sagte sie. Sie gingen die Treppen hoch, erst er vor ihr, dann sie vor ihm. In ihrem Zimmer zog er den Fünfziger aus der Hemdtasche und gab ihn ihr. Zieh dich aus, sagte sie. Er folgte. Sie setzte sich auf das Bett und wartete. Während er sich auszog, blickte er auf einen großen Kippschalter, der an der Wand in Kopfhöhe der Liege angebracht war. Was ist das, fragte er. Eine Alarmanlage, sagte sie. Ich tu dir nichts, sagte er. Das sagen sie vorher alle, sagte sie, aber in den letzten Wochen sind in diesem Haus drei Frauen umgebracht worden. Abschaffel überlegte, warum die Frau so übertrieben log. Prostituierte wurden nur selten in ihren festen Häusern umgebracht. Gefährlich wurde es für sie nur dann, wenn sie zu Männern in die Autos stiegen und sich mitnehmen ließen. Wahrscheinlich führte der Kippschalter auch zu keiner Alarmanlage. Es war sicher nichts anderes als ein gewöhnlicher Lichtschalter.
Wie heißt du? fragte er, als er sich ausgezogen hatte. Tamara, sagte sie. Auch das noch, seufzte er innerlich auf. Im Zweifelsfall hieß jede Nutte Tamara. Und wo kommst du her? fragte er. Das errätst du nie, sagte sie. Er hatte keine Lust, über ihre blöden Lügen nachzudenken, und trotzdem hatte er schon damit angefangen. Sie sprach ein fast akzentfreies Hochdeutsch, und er war ziemlich sicher, daß sie aus Norddeutschland stammen mußte. Lübeck? fragte er. Sie
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