Abschaffel
Schließfächern, und er hatte Glück. Es waren wieder Polizisten da, die sich die Koffer der Reisenden öffnen ließen. Die Polizisten hatten einen Holztisch vor sich stehen, und jeder Reisende, der etwas in einem Schließfach unterbringen wollte, mußte sein Gepäck vorher auf den Tisch legen. Die Polizisten öffneten jedes Stück, griffen mit den Händen hinein und ließen das Gepäck dann wieder schließen. In den letzten Wochen hatte es wieder mehrere kleine Sprengstoffanschläge im Bahnhof gegeben. Unbekannte Männer legten von Zeit zu Zeit kleine Bomben in Schließfächer, die ein paar Stunden später explodierten. Einmal wurden ein paar Schließfächer zerstört, ein andermal gab es nur ein rauchiges Zischen. Wegen dieser Anschläge öffnete die Polizei zur Zeit jeden Koffer. Viele Reisende aus der Provinz erfuhren bei dieser Gelegenheit zum erstenmal, daß es Bombenanschläge tatsächlich und wirklich gab und nicht immer bloß im Fernsehen. Die verblüfften und bestürzten Gesichter der Reisenden waren eine Art Unterhaltung für ihn. Er hielt sich in der Nähe des Holztischs auf und tat so, als warte er auf jemanden. Tatsächlich wollte er nur beobachten, was sich bei den Kofferöffnungen ergab. Meistens ergab sich nichts. Viele Reisende genierten sich so sehr, daß sie ihr Gepäck rasch zurückzogen und auf das Schließfach überhaupt verzichteten. Der Holztisch der Polizei war eine offizielle Ausbruchsstelle für die Scham geworden; es sah so aus, als hätte die Polizei inzwischen auch das Recht, die Schamstärke der Reisenden zu kontrollieren. Abschaffel sah hin und unterhielt sich gut. Er schätzte die Scham der Personen schon vorher ein. Es gab Personen, die schämten sich sehr aufwendig, andere sahen nur still zu, wenn die Hände der Polizisten in ihrer schmutzigen Wäsche wühlten. Es kam ein junger Mann mit einem großen schweren Koffer an. Es fiel auf, daß er den Koffer sorgfältig trug. Auch er ahnte nicht, daß sein Koffer geprüft werden sollte. Weil er offenbar noch nie eine Kofferkontrolle erlebt hatte, konnte er sich auch nicht vorstellen, was der Holztisch mit ihm zu tun haben könnte; deshalb ging er zielstrebig um ihn herum, um direkt zu den Schließfächern zu gelangen. Da hielt ihn ein Polizist am Arm fest und wies mit ausgestrecktem Finger auf den Tisch. Der junge Mann neigte dazu, den Koffer nicht zu öffnen, aber er hatte sich schon ausreichend verdächtig gemacht. Die Polizei bestand auf der Öffnung. Vorsichtig legte der junge Mann den Koffer auf den Tisch und öffnete ihn. Beide Polizisten sahen, daß in dem Koffer nur leere Flaschen waren, die mit Zeitungspapier gegeneinander abgedichtet waren. Einer der Polizisten nahm eine Flasche heraus, sah sie sich an und legte sie wieder in den Koffer. Der Polizist war amüsiert und fragte den Kofferbesitzer etwas, was Abschaffel nicht verstehen konnte. Der junge Mann war wortkarg und schämte sich sehr. Der Polizist wollte den Koffer schon wieder schließen. Ein Transport von leeren Flaschen war merkwürdig, aber nicht verboten. Der junge Mann gab keine Erklärungen ab, sondern drängte darauf, weitergehen zu dürfen. Da hatte der andere Polizist offenbar den Einfall, daß in einer der Flaschen vielleicht doch eine selbstgebastelte Bombe sein konnte, und er begann, ein paar Flaschen einzeln zu prüfen. Aber jede Flasche, die er in die Hand nahm, war einfach nur leer. Der junge Mann durfte den Koffer schließen und gehen. Er verschwand sofort. Abschaffel hatte immer noch Lust auf Unterhaltung, und er beschloß, den jungen Mann zu verfolgen. Er wollte sehen, was sich ergab. Er wußte, daß sich wahrscheinlich nichts ergab; dennoch verfolgte er den jungen Mann in der Bahnhofshalle. Vielleicht würde er den Koffer einem anderen Mann übergeben. Vielleicht war er ein armer Student, der alle Flaschen seines Zimmers gesammelt hatte und sie bei einem Kiosk abgeben wollte, damit er sich von dem Flaschengeld eine Bratwurst kaufen konnte. Aber, wenn es so war, warum wollte er die Flaschen dann in einem Schließfach unterbringen? Abschaffel bemerkte, daß er schon dachte wie ein mäßig intelligenter Polizist. Ohnehin wußte er die ganze Zeit, während er dem jungen Mann nachlief, daß die Verfolgung so überflüssig und sinnlos war wie die Tötung einer Ameise im Wald. Endlich beschloß er, den jungen Mann unbeobachtet ziehen zu lassen. Er verschwand auf Gleis 24, und Abschaffel sah ihm nach, als verliere er einen guten Freund für immer. Und während
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