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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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versteckt hielt. Setz dich, sagte sie. Er wunderte sich, weil sie das Geld nicht verlangte. Er setzte sich in einen Sessel, zog die Brieftasche und reichte ihr einen Fünfzig-Mark-Schein. Das eilt nicht, sagte sie. Abschaffel war voller Mißtrauen. Das erste, was jede Nutte bisher haben wollte, war das Geld. Ich traue dir nicht, sagte er. Aber warum denn, sagte sie, das ist ganz bestimmt keine linke Tour, ich will es nur nicht so hastig machen. Er sah sie an; er wußte nicht, ob er ihr glauben sollte. Willst du ’nen Drink? fragte sie. Er schwieg und sah sich im Zimmer um. Willst du nichts trinken? fragte sie noch einmal. Nein, sagte er. Du mußt nichts trinken, ich frage nur, sagte sie. Nein, sagte er noch einmal, ich will nichts trinken. Entspann dich, sagte sie, zieh deine Jacke aus. Er behielt seine Jacke an. Er wollte fragen, warum es nicht losging, aber er fragte nicht. Er hatte nicht damit gerechnet, daß er soviel Angst haben könnte. Sein Mund war trocken und seine Zunge pelzig und schwer beweglich, als hätte er den Mund voll Staub. Er stand auf und spülte sich am Waschbecken den Mund aus, aber er war gleich wieder trocken. Alles, was hier geschah, kam ihm nicht geläufig vor. Er erinnerte sich, daß er draußen auf dem Flur mehrere Türen gesehen hatte, hinter denen er jetzt wartende Männer vermutete. Er setzte sich hin und erhob sich gleich wieder. Ich bin zu nervös, es geht nicht, sagte er. Sie erhob sich ebenfalls und faßte ihn an. Er hatte plötzlich das sichere Gefühl, bald geschlagen zu werden. Bleib doch, sagte sie, jetzt habe ich dich doch hier heraufgeholt. Er ging zur Tür. Das find ich aber Scheiße von dir, sagte sie. Ich kann nicht, sagte er. Gib mir wenigstens drei Mark für einen Drink, sagte sie. Er griff in seine linke Jackentasche und holte alle Münzen heraus, die darin waren. Kleingeld nehm ich nicht, sagte sie. Er holte seine Brieftasche heraus und gab ihr einen Zwanziger. Sie nahm ihn, öffnete die Tür und ging hinaus. Ich krieg noch was raus, sagte er. Auf dem Flur öffnete sie eine andere Tür und war verschwunden. So ungefähr habe ich mir das vorgestellt, rief er gegen die Tür. Im Haus war es ganz still. Er überlegte, ob er die Tür öffnen sollte oder nicht. Da erinnerte er sich schon wieder an die vielen kleinen Meldungen in der Tageszeitung, in denen es immer hieß, daß irgendwelche Leute von unbekannten Männern im Bahnhofsviertel niedergeschlagen wurden. Im Haus war es immer noch ganz still. Da endlich ging Abschaffel die Treppen hinunter.
    Es war erst neun Uhr, und in den Straßen wimmelte es von Männern und Autos. Abschaffel war unschlüssig. Es ärgerte ihn, daß er zwanzig Mark wegen nichts verloren hatte. Er fühlte sich traurig und beleidigt. Er dachte eine Weile nicht an seinen Plan, weil er vermeiden wollte, daß er noch trauriger wurde. Am ersten Abend war alles anders verlaufen, als er es sich vorgestellt hatte. Einen zweiten Versuch am gleichen Abend wollte er nicht mehr riskieren. Er wußte, daß er mindestens ein bis zwei Stunden brauchte, um sich zu beruhigen und neues Zutrauen zu seinem Plan zu fassen. Er verließ das Bordellviertel und war plötzlich jemand geworden, der an einem warmen Sommerabend Schaufenster betrachtete, sogar mit den Händen auf dem Rücken. Noch immer erschütterte ihn die Dringlichkeit, mit der ihm das Mädchen noch auf der Türschwelle einen Zwanziger abgejagt hatte. Er sah in ein leeres Telefonhäuschen hinein und hoffte, auf dem aufgeschlagenen Telefonbuch einen Geldbeutel liegen zu sehen. Natürlich lag kein Geldbeutel in der Zelle. Leere Zigarettenschachteln waren auf dem Boden verstreut und ein zweites, zerrissenes und verschmutztes Telefonbuch mit den Seiten nach unten. Durch den Anblick des zerstörten Telefonbuchs fühlte er sich sofort geschmerzt und empfand Wut auf die unbekannten Vernichter, deren Taten ihm so oft das Gefühl einflößten, in einer langsam umkippenden Welt zu leben, in der jeder, der etwas zerstörte oder etwas mitnahm, zu den Klügeren gehörte, während die anderen, zu denen er selber leider immer noch zählte, in einer schon längst verrotteten Demut weiterlebten. Und dies, obwohl er kurz zuvor noch ganz sicher gewesen war, einen ganzen Geldbeutel verschwinden lassen zu können, wenn nur einer dagewesen wäre. Er ging nach Hause, weiter war nichts. In einer prächtigen italienischen Eisdiele kaufte er sich ein Eis. Der Eissalon hatte alle Türen weit geöffnet. Ein alter und ein junger

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