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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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unmittelbar nach der Leerung aufgebrochen wurde. Wahrscheinlich ließen sich aber viele Automatenknacker von dieser Inschrift dennoch beeindrucken und wandten sich ab. Abschaffel zog sich den Reißverschluß an seiner Hose hoch, und erst dabei fiel ihm auf, daß er sich nun sogar um die Berufsprobleme von Automatendieben kümmerte. Er selbst würde sich niemals an einem Automaten vergreifen. Im Gegenteil, er war froh, wenn die Zigarettenautomaten richtig funktionierten. Alles, was er sich traute, war das Fallenlassen von Bonbonpapierchen in dunklen Kinos, und sogar dann drehte er sich noch im Dunkeln um, ob ihn niemand beobachtet hatte. So phantasierte er müde und lustlos vor sich hin. Er fuhr mit einer Rolltreppe zum Roßmarkt hoch und stieg in ein Taxi. Er wollte nach Hause. Er hatte einen schwierigen Abend vor sich, das wußte er. Es ließ sich nicht weiter davon absehen, daß er vollkommen allein war. Er war sogar mehr als allein; weil er sich in aussichtslose Hoffnungen begab und notwendig enttäuscht werden mußte, schoß er in Höhen des Alleinseins hoch, in denen er immerzu nur sich selber gegenüberstand. Und er wußte nicht, daß ein Mensch nur dann einsam sein konnte, wenn es ein paar andere Menschen gab, die der Einsamkeit eines einzelnen wenigstens zusahen. Ihm sah niemand zu. Seine Kämpfe schärften sich nur an sich selbst, und sie beeindruckten niemand.
    Als er seine Wohnung betrat, bemerkte er, daß er sich in der Zeit verschätzt hatte. Er hatte das Gefühl, daß es sehr spät war, aber es war erst acht Uhr. Er war ja schon am Spätnachmittag in das Bahnhofsviertel gegangen, und es war nicht viel passiert. Weil er sich aber zu allem, was geschehen war, viel gedacht hatte, glaubte er schon, auch viel erlebt und viel Zeit verbraucht zu haben. Es schmerzte ihn die Brust und die Gegend um den Hals; es war ein Ziehen und Zerren, als sei sein Körper für ihn zu klein geworden. Er faßte sich mit einer Hand in den Nacken, wie es manchmal die Fernfahrer taten, wenn sie von langen Fahrten zurückkehrten. Aber es wurde nur eine Bewegung, die nichts ausrichtete. Er fühlte sich erschöpft und gekränkt und leer. Er zog sich aus und überlegte, ob er baden sollte. Was gab es denn daran zu überlegen? Warum konnte er nicht einfach baden? Seit er in der Wohnung war, hatte er wieder die Vorstellung, seine Zeit wertvoll verbringen zu müssen. Aber er war inmitten eines mißglückten Samstags, der Teil eines langsam ebenfalls mißglückenden Plans war. Und es ärgerte ihn, daß er nicht fähig war, seinen Plan vorzeitig aufzugeben. Er badete nicht, sondern lief in Unterwäsche in der Wohnung herum. Er spiegelte sich in den Scheiben der Balkontür, und er erschrak. Das Unterhemd hing labberig über den Leib, und die Unterhose bedeckte formlos und durchhängend den Unterkörper. Er hatte zugenommen in den letzten Wochen. Es war ihm möglich, sich widerwärtig zu finden. Er wandte sich von seinem Bild ab und ging in die Küche. Er verspürte Hunger und wickelte das Brot aus dem Frischhaltebeutel, und natürlich war die Schnittfläche des Brots wieder halb eingetrocknet. Seit mehr als zehn Jahren hatte er immer dasselbe Problem mit der halb eingetrockneten Schnittfläche des Brots: ob er die erste Scheibe wegwerfen sollte oder nicht. Und immer erinnerte er sich zunächst an die Eltern. Weder die Mutter noch der Vater hatten jemals eine Scheibe Brot weggeworfen. Sie bewahrten einfach alles auf; selbst eindeutig hart gewordenes Brot warf die Mutter nicht weg. Sie sammelte es in einer Tüte, und später drehte sie es durch die Reibetrommel und machte Brösel daraus, der dann zur Panierung von Schnitzeln gebraucht wurde. Es blieb Abschaffel nichts anderes übrig, auch heute noch den Willen der Eltern zu vollstrecken. Da er kein Brösel brauchte, mußte er die halb trockene Scheibe essen. Als Entschädigung legte er zwei Scheiben Wurst darauf (dieses ewige Aufrechnen der kleinen Nachteile gegen die noch kleineren Freuden). Er lief, das Wurstbrot vor sich her tragend und kauend, in der Wohnung herum und dachte an nichts. Vor dem Spiegel im Bad blieb er stehen und sah sich zu, wie er kaute. Auf seinem Rücken, ziemlich oben, entdeckte er zwei einzelne lange Haare. Er legte das Wurstbrot auf den Rand des Waschbeckens und drückte mit einer Hand den Ausschnitt des Unterhemds ein wenig zur Seite. Die beiden Haare konnten ihm erst in jüngerer Zeit gewachsen sein. Er sah in ihnen ein Zeichen für die langsame Veralterung seines

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