Abschaffel
eigentlich heulen müßte, und er wunderte sich, daß er es nie tat. Wahrscheinlich heult mein Geschlecht für mich, dachte er, und er stellte sich wirklich vor, daß die Samenfäden vielleicht Tränen des Geschlechts waren, die vergossen wurden über die Dummheit des Häschers, der noch immer meint, den leeren Wald durchstreifen zu müssen.
Er erhob sich und wusch sich im Bad die Hände. Er frisierte sich sogar, obwohl er nur wieder ins Bett wollte. Es war erst neun Uhr, aber er wollte schlafen. Im Bett wünschte er sich, kein Geschlecht mehr zu haben. Diese ewige Trauer stiftende Sexualität, ich ertrage sie nicht mehr, dachte er flehend. Er brauchte eine Weile, bis er sich wieder beruhigt hatte. Die Onanie ist eine Möglichkeit, ständig in der Nähe der Niederlage zu leben, dachte er, und der Gedanke gefiel ihm. Er wartete, ob ihm noch mehr dazu einfiel, aber alles, was ihm in den Kopf strömte, waren blöde Sorgen. Auch das kannte er seit vielen Jahren; eine halbe Stunde vor dem Einschlafen schritt sein Kopf alle Sorgen ab, die er überhaupt auftreiben konnte. Solche, die er wirklich hatte, andere, veraltete Sorgen, die er früher einmal gehabt hatte, und ganz fremde, die er nie gehabt hatte und wahrscheinlich nie haben würde. Das Schlimme war, daß auch solche Sorgen, die er in dieser halben Stunde schon einmal durchsorgt hatte, sich noch einmal nach vorne drängelten und von seinem Kopf ein zweites Mal behandelt werden wollten. Erst nach einer Dreiviertelstunde ermüdete der Kopf wirklich, und er versank endlos im Kissen. Das Dröhnen an den Innenseiten der Ohren hörte auf. Die Hauptsorge, ob sich sein Leben überhaupt nicht ändern ließe, war natürlich wieder nicht behandelt worden; sie war ihm nur einmal kurz durch den Kopf gerannt, wie um zu zeigen, wie frech sie noch immer war. Und der Kopf war feige und unwissend freiwillig zurückgetreten. Genaugenommen konnte Abschaffels Kopf seine Hauptsorge nur noch aus der Ferne vorüberrennen sehen.
Am Sonntag blieb er lange im Bett. Aus der Wohnung nebenan hörte er Reste von Musik, die offenbar aus einem Radio kam. Er überlegte, ob er die Musik in seinem Radio suchen sollte, aber er ließ es und hörte den Resten zu, die durch die Mauer kamen. Er machte sich eine kleine Kanne Kaffee und zwei Brote, und jede Verrichtung, die dazu nötig war, glitt an diesem Morgen bedeutungslos an ihm ab. Das gefiel ihm gut. Nach dem Frühstück räumte er sogar ein wenig auf, und dabei fand er, noch in der Plastiktüte verpackt, den Schuhkarton mit den neuen schwarzen Sandalen, die er sich gekauft hatte, als er von Barbara gehört hatte, daß Margot ihn verlassen hatte. Er zog den Schuhkarton mit einer Andacht aus der Plastiktüte, als hätte er Margot wiedergefunden. Margot! Es war nicht zu fassen, aber er hatte Margot verloren. Warum war sie an diesem Sonntagmorgen nicht in seinem Zimmer und redete ihm gut zu? Er dachte heftig an sie, während er die Sandalen auspackte. Sogar die schneeweißen Socken, in einer Papiertüte verpackt, fand er wieder. Mußt du denn diesen geschmacklosen Quatsch anziehen, würde Margot ihn jetzt fragen. Nein, Margot, natürlich nicht. Also, dann wirf das ganze Zeug in den Mülleimer. Was, die neuen Sandalen und die neuen Socken soll ich in den Mülleimer werfen? Ja, natürlich, was willst du denn sonst damit machen? Ich verstehe nicht, würde sie rufen, warum du immer wieder solchen Unsinn machst. Liebe Margot, müßte er dann sagen, schimpf mich nicht, ich verstehe es auch nicht.
Zu Ehren von Margot stopfte er je eine Sandale in je einen Socken und hängte die beiden unförmigen Strumpfsäcke mit zwei Wäscheklammern im Bad auf. Es war ein Denkmal für Margot. Er sah es eine Weile an und überlegte, ob er an die beiden Socken ein Schildchen anheften sollte. EIN SCHMERZKAUF müßte auf dem Schildchen stehen. Oder EIN SCHMERZKAUF FÜR MARGOT. Er empfand Lust, Margot anzurufen und sie zu bitten, sich ihr Denkmal anzusehen. Er freute sich, daß er so lebhaft an Margot dachte, und vergaß darüber, daß sie wahrscheinlich gar nicht mehr in Frankfurt wohnte. Und außerdem und außerdem, dachte er, führte aber seine Überlegung nicht zu Ende.
An diesem Sonntag fand der dritte und letzte Versuch statt. Wie gestern wollte er sich am Spätnachmittag auf den Weg machen, vielleicht sogar noch ein wenig früher. Er nahm sich nichts Besonderes vor, sondern wollte alles so geschehen lassen, wie es eben geschah. Er wußte noch nicht einmal mehr genau, ob
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