Abschaffel
er eigentlich noch an seinen Plan glaubte. Er war in einer Stimmung, in der es ihm später nichts mehr ausmachte, sich ein Scheitern einzugestehen. Es fehlten nur noch ein paar Winzigkeiten, um eine wartende Enttäuschung perfekt zu machen. Das war das Grundgefühl seines Lebens überhaupt, und er war angenehm berührt, dieses Gefühl endlich wieder einmal in dieser Klarheit in sich zu spüren. Es war angenehm gleichgültig, was geschah. Aber warum konnte er nicht immer in der Leere und Sicherheit bevorstehender Enttäuschungen leben? Es war ihm noch nicht gelungen, die Hoffnung ein für allemal und endgültig in sich abzuwürgen. Noch immer meldete sie sich mit merkwürdigen Vorschlägen.
Kurz nach vierzehn Uhr betrat er ein italienisches Lokal in der Nähe seiner Wohnung. Er wußte, um diese Zeit war das Lokal fast schon wieder leer, und die italienische Familie traf Vorbereitungen, selbst zu Mittag zu essen. Dabei wollte er zusehen und selbst eine Pizza essen. Er war genau zum richtigen Zeitpunkt erschienen. Eben rückte der Wirt zwei Tische zusammen und warf eine frische Tischdecke darüber. Er war ein kleiner grauhaariger Mann, der aus zusammengepreßten Lippen leise pfiff. Er war freundlich und flink und redete unablässig in die Küche hinein. Zwischendurch kam er an Abschaffels Tisch und nahm seine Bestellung entgegen. Er bestellte die teuerste Pizza, einen italienischen Salat und einen halben Liter Valpolicella. Der Sohn des Wirts trug das Besteck herein und verteilte es auf die Plätze. Der Tisch wurde für acht Personen hergerichtet. Der Wirt trug Teller und gefüllte Schüsseln auf, und zwischendurch brachte er Abschaffels Pizza. Der Wirt rief, nachdem aufgetragen war, einige befehlsartige Sätze in die Küche. Offenbar galten die Sätze dem bevorstehenden Beginn des Essens. Aus der Küche kam eine Oma, die kleiner war als der Wirt, und nahm Platz. Nach ihr erschien eine dicke Frau, die altersmäßig zum Wirt paßte und wahrscheinlich seine Frau war. Aus einem Nebenraum trat ein junges Mädchen hervor und legte eine Illustrierte weg. Der Sohn des Wirts brachte ein kleines Kind und übergab es dem jungen Mädchen. Das junge Mädchen nahm das Kind auf den Schoß. Der Sohn ging in die Küche zurück und brachte ein weiteres Kind, das er neben sich auf einen Stuhl hob. Als letzter setzte sich der Vater. Nein, es kam noch eine junge Frau hinzu, die offenbar die Mutter der beiden Kinder war. Als alle auf ihren Plätzen waren, füllte sich der Vater seinen Teller mit grüner Gemüsesuppe. Alle redeten und füllten sich nacheinander die Teller. Die zugreifenden und sich wieder zurückziehenden Arme verliehen dem Tisch eine einheitliche Bewegung. Sie aßen Suppe und Weißbrot. Danach saugten sie kleine Meerestiere aus und nagten Knochen ab, tranken zwischendurch Rotwein und wischten sich den Mund ab. An der Fütterung des Kleinkindes hatten alle Anteil. Jeder steckte dem Kind etwas in den Mund. Daß sie auch noch unablässig dabei redeten, war für Abschaffel fast unbegreiflich. Aus dem allgemeinen Gespräch ragte immer wieder der Name Maria hervor, und Abschaffel rätselte schon, wer Maria war. Wahrscheinlich die junge Frau, die wahrscheinlich die Frau des Sohns des Wirtes war. Jeder mußte immer etwas in der Hand haben, damit alle zugleich zufrieden sein konnten. Das Kleinkind schob sich mit den Händen einige Spaghetti in den Mund, und der Vater zerschnitt mit einem großen Messer sorgsam eine Tomate in Scheiben, die er sofort aufaß. Abschaffel beugte sich über seine Pizza und beobachtete die Familie. Es fiel ihm gar nicht auf, daß er sich anstrengte, keine Geräusche zu machen. Sein Messer sollte nicht über das Porzellan kratzen. Inmitten des Lärms der anderen begann er, sich zu schämen. Er wollte zahlen und gehen. Er glaubte plötzlich, sich in seiner Rolle als fremder Alleinesser, der sich unter Einhaltung der notwendigen Distanz an ein familiäres Essen herangeschlichen hatte, keine Minute länger ertragen zu können. Außerdem fürchtete er, daß der Wirt ihn durchschaut hatte. Er winkte ihn zu sich heran und zahlte. Der Wirt blieb freundlich. Er hatte, um Abschaffel abkassieren zu können, sein Mittagessen unterbrochen. Nun setzte er sich wieder auf seinen Platz und aß und redete sofort weiter.
Eine halbe Stunde später war Abschaffel im Bahnhofsgebiet. Ohne besondere Ideen und Hoffnungen ging er in den Straßen umher. Er war nur hier, weil er es sich vor drei Tagen vorgenommen hatte. Er
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