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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Entdeckung glaubte er einige Sekunden lang, die Antenne sei der Gegenstand, der ihm bei nächster Gelegenheit in den Kopf gestoßen würde. Er überquerte sofort die Straße, um seinen Schreck möglichst rasch abzudämpfen. Von der anderen Straßenseite kam ihm ein Mann mit dicken Lippen entgegen, und Abschaffel sah, während er sich dem Mann näherte, unablässig auf dessen Lippen. Der Mann bemerkte, daß ihm auf die Lippen gesehen wurde, und Abschaffel fand es selbst gemein und unverschämt, jemand nur auf die Lippen zu sehen. Vielleicht wurde der Mann sogar wütend und versetzte seinem Beobachter einen Schlag; aber es geschah nichts. Der Mann ging vorbei. Im Rinnstein des Bürgersteigs, den Abschaffel auf der anderen Seite betrat, lag ein Zehn-Pfennig-Stück, und kaum hatte er es gesehen, war sein Körper schon der Gegenstand eines Reflexes: er bückte sich und wollte den Zehner an sich nehmen, bloß weil es Geld war. Er schämte sich und richtete sich wieder auf und ging über die Münze hinweg. Der Ansturm der Einzelheiten war unerträglich. Die Käsescheiben, die dicken Lippen eines Fremden und der Groschen im Rinnstein! Er wartete zitternd auf die U-Bahn, und er war überzeugt, daß alles, was er erleben konnte, durch und durch niederträchtig und lächerlich war.
    Mit zusammengekniffenen Augen betrat er das Büro. Er wollte mit niemandem sprechen, niemand ansehen und über nichts nachdenken. Er wollte alle Leute ohrfeigen und sie aus dem Fenster werfen. Am Außenrand seines Schreibtisches wollte er eine kleine Betonwand von der Größe einer Garten-Einfassung hochmauern; auf seinem Schreibtisch wollte er stark vergrößerte Mausefallen aufstellen, die nach jeder Hand schlugen, die ihm etwas auf den Schreibtisch legen wollte. Und er selbst wollte einen schwarzen Sturzhelm über den Kopf ziehen und Uh-hu-hu rufen. All das war nicht möglich, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als versteinert auf seinem Platz zu bleiben. Falltüren hatte er vergessen! Und zwar wollte er die Zugangswege zu seinem Schreibtisch mit geheimen Falltüren unterbrechen, so daß jeder, der zu ihm wollte, sofort auf die Gleise des Rangierbahnhofs fiel und dort überrollt wurde. Er saß da und spielte mit den Haaren in seinen Nasenlöchern. Die Haare waren zu lang geworden, und er überlegte, ob er sie abschneiden sollte. In seiner Schublade hatte er eine kleine Nagelschere liegen. Noch nicht einmal solche kleinen Handlungen konnte er zu Ende bringen an diesem Morgen. Noch während er über die Länge seiner Nasenhaare nachdachte, vergaß er die ganze Geschichte wieder. An diesem Morgen war es laut im Büro. Die Buchungsautomaten summten und ruckten; jedesmal wenn die Automaten eine neue Schreibzelle einstellten, schepperten die Schubteile der Maschinen laut auf. In fast allen Abteilungen ratterten die Additionsmaschinen. Ein Monat war zu Ende, und es mußten Abrechnungen aufgestellt werden. Abschaffel nahm sich die Brille ab und rieb sich mit Zeigefinger und Daumen in den Augen. Er ließ die Brille eine Weile auf dem Schreibtisch liegen und sah mit bloßen Augen im Büro umher. Mit dem rechten sah er viel besser als mit dem linken; die Kurzsichtigkeit des linken störte die normale Sehfähigkeit des rechten Auges, und deswegen mußte er das linke Auge zukneifen, wenn er ohne Brille nicht alle Gegenstände mit zwei und drei Rändern sehen wollte. Er sah eine Weile ohne Brille umher, und es gefiel ihm, daß er nichts mehr richtig sah. Ronselt beobachtete ihn, aber er sagte nichts. Abschaffel sah an Ronselt vorbei in die Weite des Büros, und weit hinten unterschied er nur noch einige bewegliche Flecken, das mußten Kollegen sein. Dann setzte er die Brille wieder auf, und es erschreckte ihn sogar die Kälte des Brillengestells im Gesicht. Er fühlte sich aufgeweicht und eingeschrumpelt. Am Donnerstag der vergangenen Woche hatte er an diesem Platz eine Weile geglaubt, nicht mehr hierherkommen zu müssen. Er hatte einen Plan gemacht und hatte nachgedacht, er hatte sich im voraus gefreut und hatte einen guten Willen gehabt. Alles war umsonst gewesen. Er saß da wie seine eigene Täuschung. Der Kopf schmerzte. Es ist furchtbar, dachte er, aber alles, was ich kann, ist die Zusammenstellung eines neuen Sammelverkehrs nach Augsburg, Osnabrück oder Stuttgart. Mörst kam aus dem Büro der Sekretärin von Ajax und verkündete, daß Gersthoff am Sonntag gestorben war. Offenbar hatte Mörst es gerade selbst im Büro von Frau Morlock erfahren. Um

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