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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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daß Fräulein Schindler ihn gar nicht hatte einladen wollen, aber Frau Schönböck hatte die Einladung lanciert, damit sie wieder eine Kontaktmöglichkeit zu ihm hatte. Oder hatte Hornung herumerzählt, daß Abschaffel ihn besucht hatte? Glaubten einige Kollegen, daß sie beide Freunde geworden seien? Und warum hatte Fräulein Schindler ihm sogar ein Zeichen gegeben, daß er die Einladung persönlich auffassen und entsprechend behandeln sollte? Und warum gab es überhaupt so viel Getue wegen einer Geburtstagsveranstaltung in Fräulein Schindlers sicher peinlichem Ein-Zimmer-Appartement?
    Es gab gar kein Getue. Nur Abschaffel machte aus seiner Einladung eine innere Bewegung, weil er nicht fassen konnte, daß er eingeladen worden war. Er hatte geglaubt, alle diese Leute wüßten ganz genau, daß er sie nur auf dem Wege der zwangsweisen Zusammenführung im Büro aushalten konnte. Darin hatte er sich offenbar geirrt. Nur aus Müdigkeit hörte er auf, über diesen Punkt weiter nachzudenken. Sollte er der Einladung folgen? Er konnte sich nicht vorstellen, wie er eine Wiederbegegnung mit Frau Schönböck auf halbprivater Ebene noch einmal ertrug. Wahrscheinlich kam es dann in alkoholisiertem Zustand zu einer sogenannten Aussprache, und es würde ihm nicht möglich sein, ihr etwas Wahrhaftiges zu sagen. Genaugenommen konnte er an dieser Geburtstagsfeier nicht teilnehmen.
    Zu Hause stellte er sofort den Fernsehapparat an. Er sah drei jungen Kunstradfahrern zu, die in weißen Anzügen kleine Kreise drehten. Sie wirbelten wie Gummimenschen über das Bild, und Abschaffel sah eine Weile stumm zu. Nach fünf Minuten begann er sich darüber zu sorgen, wie diese drei Kunstradfahrer einst ihr Alter bewältigen sollten. Wahrscheinlich wurden sie dann Angestellte und zeigten sich alte Fotos von ihren sagenhaften früheren Fernsehauftritten. Er schaltete den Apparat ab, und gegen seinen Willen dachte er noch eine halbe Stunde über das erwartbare Schicksal der Kunstradfahrer nach. Überhaupt wurde das Sich-sorgen immer mehr zu einem Hauptvorgang seines Lebens. Früher hatte er das nicht gekannt. Früher hatte er überhaupt nicht bemerkt, wie ein Jahr verging oder zwei. Heute litt er darunter, daß er von allen Personen, die nach ihm geboren worden waren, nur noch wenig wußte. Von den anderen, die älter waren als er, hatte er das Gefühl, ihr Leben gut zu kennen. Wenn der starke Raucher Ronselt frühmorgens furchtbar hustete, dann war ihm dieses Geräusch angenehm. Dann stellte er sich kurz vor, wie Ronselt eines Tages, vielleicht in zehn oder fünfzehn Jahren, in einem Krankenbett lag und langsam starb. Aber es war Abschaffel möglich, sich an Ronselts Bett sitzend vorzustellen. Von den jungen Leuten, zum Beispiel von den Lehrlingen Bosch und Moser, wußte er so gut wie nichts. Die Fremdheit war so stark, daß Abschaffel sogar geleugnet hätte, auch Bosch und Moser stammten von richtigen Eltern ab. Er kannte nicht einmal die Geräusche dieser jungen Leute, und er war nicht neugierig, sie zu erfahren. Statt dessen erschrak er schon über ihre Bekleidung. Manchmal erschienen sie mit Jacken, die mit Nieten, Nägeln und Broschen beschlagen waren, und Abschaffel gestand sich ein, daß es jemanden geben müßte, der ihm diese Jacken erklärte.
    Er machte sich ein paar Brote und brachte sie ins Zimmer. Er stand noch einmal auf, um sich eine Flasche Bier zu holen. Einmal dachte er an Rike, aber weil er nicht mehr in seinem Traum war, waren ihm die zweihundert Mark für eine Stunde Rike zuviel. Statt dessen riß er ein paar Blätter von seinem Wandkalender herunter. Beim vierten Kalenderblatt fiel der ganze Kalender zu Boden und der Reißnagel hinterher; der Reißnagel rollte sogar unter das Bett. Am liebsten hätte er den am Boden liegenden Kalender unter das Bett gekickt und vergessen, daß es Kalender gab. Er ließ sich hinab auf die Knie und tastete vorsichtig mit der flachen Hand unter das Bett. Er fand den Reißnagel in einer großen Staubwolke. Er überlegte, ob er nicht den Staub unter dem Bett hervorkehren sollte, aber er fühlte sich zu schwach dafür. Er war damit beschäftigt, den Kalender wieder aufzuhängen, und als es ihm gelungen war, freute er sich. Aus Langeweile ging er in die Küche und fand ein altes gekochtes Ei, das er vor vier Tagen liegengelassen hatte. Er aß es schnell auf und wunderte sich, wie dumpf und pappig das Ei war.
    Seine Wohnung war verstaubt und schmutzig. Ein Teil des Zimmers war mit Matten ausgelegt,

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