Abschaffel
Spannung verzogen war. Er fühlte sich merkwürdig erleichtert, und gern wäre er eingeschlafen. Und weil er erregt war, fand er nicht mehr den Ton von vorhin. Willst du wirklich nicht mit? fragte er nur, und er fand sich selbst zu plump. Es tut mir leid, sagte sie, ich kann wirklich nicht. Er zog sich an und wusch sich ebenfalls die Hände. Rike stand an der Tür und wartete auf ihn. Sie ging vor ihm die Treppen hinunter, und kurz bevor sie die Eisentür öffnete, die in die Halle führte, fragte sie ihn, ob er zwei Groschen hätte. Er griff sofort in seine Hosentasche und holte alle Münzen heraus, die er finden konnte. Kleingeld willst du ja sicher nicht haben, sagte er und bemühte sich, spaßig dabei zu wirken. Ich nehme alles, sagte sie und fügte ihre Hände wie zu einem Trichter zusammen, und Abschaffel kippte ihr die Münzen in die Hände. Sie stemmte sich mit dem Körper gegen die Eisentür und ging zurück zu der Säule. Durch einen langen Gang ging Abschaffel hinaus auf die Straße.
Kaum war er draußen, begann er, während er ging, freundschaftlich mit Rike zu schimpfen. Er konnte sich nicht erklären, wozu sie zwei Groschen brauchte. Ein Telefonhäuschen gab es nicht in den Häusern. Und weil sie sich gleich eine Handvoll Kleingeld hatte geben lassen, schimpfte er noch liebevoller mit ihr. Was bist du für ein kleines raffgieriges Stück, sagte er leise wie zu einem Kind. Kannst du denn nie genug kriegen? Erst nach einer Weile bemerkte er, daß diese Art des nicht ernst gemeinten Schimpfens ein idiotischer Versuch war, noch immer mit Rike in Verbindung zu sein. Es war wieder einmal alles lächerlich. Er ärgerte sich, weil er nicht dringlicher versucht hatte, sich mit ihr zu verabreden. In der entscheidenden Minute war er durch die Erleichterungen, welche die Sexualität gewährt, von seinem Anliegen abgelenkt worden. Sollte er zurückgehen und alles noch einmal von vorne versuchen? Das sieht nicht gut aus, dachte er. Ich warne dich, schimpfte er wieder umsonst mit Rike, ich kann dir nicht jedesmal soviel Geld geben, ich warne dich. Alle Sätze, die er dachte, machten aus ihm einen gewöhnlichen Mann, der gegen Geld eine genau abgemessene sexuelle Leistung eintauschte. Er aber glaubte in diesen verwirrten Augenblicken, Rike gehöre ihm bereits an. Er überlegte, ob er morgen wieder zu ihr gehen sollte und ob es denn stimmte, daß sie sonst nur an Wochentagen hier war. Wehe dir, wenn du mich angelogen hast, wehe dir, ich warne dich, lüg mich nicht an. So dachte und phantasierte er weiter vor sich hin. Mit der U-Bahn fuhr er nach Hause. Ich warne dich, überlegte er immer wieder, wehe dir. In der U-Bahn saßen nur wenige alte Frauen in schwarzen Kleidern, die wahrscheinlich Besuche machten. Er saß an einer Fensterscheibe, sah in die dunklen Schächte hinaus und redete immer noch mit Rike. Er hatte keinen Grund, sie zu warnen oder ihr gar zu drohen. Ich wehe dich, flüsterte es in seinem Kopf. Er hielt kurz inne, weil diese Mahnung zum erstenmal in seinen Litaneien an Rike aufgetaucht war, aber weil sein Kopf gequält und verwirrt war, fand er nicht heraus, daß ICH WEHE DICH eine Zusammenziehung aus ICH WARNE DICH und WEHE DIR war. So war es am Schluß auch noch angenehm, in der Versagung immer weniger zu verstehen.
Am Montagmorgen wachte er wie immer gegen sieben Uhr auf. Er machte sich zwei Brote mit Käsescheiben zurecht und trank eine große Tasse Kaffee dazu. Die Käsescheiben schmeckten furchtbar, aber er aß sie. Er stellte sich vor, wie der Erfinder der Käsescheiben irgendwo im Grünen saß und genau wußte, wie furchtbar seine Käsescheiben schmeckten. Wahrscheinlich schmierte sich der Erfinder der Käsescheiben Tannenhonig auf seine Frühstücksbrote, aber weil alle Menschen immer daran gehindert waren, ihre Wut sofort auszudrücken, würde dem Erfinder der Käsescheiben nie etwas geschehen.
Es war kein gutes Zeichen, daß er sich mit solchen Einzelheiten beschäftigte. Er war wieder im kleinen Leben angelangt, und das Leben lieferte ihm wie am Fließband die alten Geschichten an; das Fließband endete vor seinen Füßen, und genau vor seinen Füßen türmte sich der alte Schutt auf. Kaum war Abschaffel auf der Straße, erschrak er über eine Autoantenne, die aus einem geparkten Auto emporragte. Er wurde wütend, weil er nun sogar über ausgefahrene Autoantennen erschrak, aber die Wut half ihm nicht. Er hatte die Antennenspitze erst bemerkt, als er an dem Auto vorüberging, und nach der
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