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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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durch die Dreck und Staub durchfielen. Er hatte nicht die Kraft, die Matte hochzuheben und den Dreck zusammenzuwischen. Es war erst halb zehn. Er war müde, aber er genierte sich, schon wieder so früh ins Bett zu gehen. Er war erschöpft, aber er traute sich nicht, Erschöpfung als Grund wirklich anzunehmen. Du gehst jetzt nicht ins Bett, redete er sich zu, weil nichts war, weil nichts kommt und weil nichts ist. Er stand am Fenster und sah auf die Straße hinunter. Er sah eine vom Urlaub zurückgekehrte Familie, die eben ihr Auto auspackte. Er war dankbar, daß es noch etwas zu sehen gab. Er atmete auf, holte sich noch eine Flasche Bier und ging an das Fenster zurück. Die Frau streckte ihre Glieder am Straßenrand, der Mann holte Gepäck aus dem Kofferraum und stellte es auf dem Bürgersteig ab. Eine etwa fünfzehnjährige Tochter trug leichtes Gepäck hoch in die Wohnung der Leute. Es kamen Nachbarn herunter und unterhielten sich mit ihnen. Der Mann bemühte sich, die Leerung des Autos möglichst ohne Aufsehen hinter sich zu bringen. Die Frau war eher geneigt, sich auf Gespräche mit Nachbarn einzulassen. Abschaffel war sicher, daß der Mann ein wenig verärgert war. Er gab rasche, kurze Anweisungen. Wenn ich jemals mit einer Frau, einem Kind und einem Auto in Urlaub fahre, dachte Abschaffel dann werde ich genauso verärgert zurückkommen. Er bemerkte, daß ihn das Bier rasch ermüdete. Er ging vom Fenster weg und öffnete die Knöpfe an seinem Hemd. Auf dem Bett sah er seine Jacke liegen, wo er sie vor vier Stunden hingelegt hatte. Er hängte die Jacke nicht mehr an der Garderobe im Flur auf. Gewöhnlich legte er sie über einen Stuhl oder, und das sah noch abwesender aus, er warf sie auf das Bett. Er konnte sich nicht erklären, warum er so nachlässig wurde. Die Jacke auf dem Bett hatte ihn vier Stunden lang gestört. Er hatte die Idee, in einem Karton oder in einer Plastiktüte ein wenig Straßendreck, vielleicht Erde oder Baumörtel, in seine Wohnung zu schaffen und dort auszuleeren. Dann würde es nicht immer vier oder fünf Stunden dauern, bis er alle Mißverständnisse niedergekämpft hatte und sich wieder gewiß war, daß er sein Leben als Angestellter und alleinstehender Wohner nicht anerkannte. Dann würde er in sein Zimmer treten können, den umherliegenden Baumörtel erblicken und sofort wissen: Das alles ist nicht mein wirkliches Leben, sondern ein Betrug, den ich nicht anerkenne. Und wenn erst einmal Baudreck in seinem Zimmer herumlag, dann würde es ihn auch nicht mehr stören, wenn seine Jacke vier Stunden lang auf dem Bett lag. Dann wäre eine nicht aufgeräumte Jacke nur ein Teil eines im ganzen nicht aufgeräumten, weil nicht anerkannten Lebens.
    Er hatte an diesem Abend nicht mehr damit gerechnet, solche Überlegungen noch zustande zu kriegen. Er spürte Lust, noch einmal auf die Straße zu gehen und Baudreck zu besorgen. Er hatte sich schon überlegt, das Geröll halb unters Bett und halb auf dem kleinen Platz vor dem Bett auszubreiten. Es würde dann so aussehen, als sei unter seinem Bett ein Bauloch, an dem gerade gearbeitet werde. Er vergnügte sich an dieser Vorstellung so sehr, daß er glaubte, er hätte sie schon verwirklicht. Denn natürlich war er zu müde dazu, noch einmal auf die Straße zu gehen und Baudreck zu besorgen (er war auch zu feige dazu, aber weil er glücklicherweise noch viel mehr müde als feige war, kam er um das Eingeständnis der Feigheit noch einmal herum). Außerdem hatte er das Hemd und die Strümpfe schon ausgezogen. Als er die Hose in einem versuchsweise eleganten Schwung von den Beinen zog, fiel ihm sein ganzes Hartgeld aus der Hosentasche. Er hielt inne und sah den Münzen zu, wie sie bogenförmig auseinanderrollten und fast gleichzeitig umkippten. Das hatte ihm gefallen. Eigentlich wollte er die Münzen noch einmal auf dieselbe Weise auseinanderrollen und umkippen sehen. Aber dazu hätte er strenggenommen noch einmal die Hose anziehen müssen. Leider war er für fast alles zu müde. So ließ er die Münzen liegen und sank ins Bett. Im Bett erregte es ihn, daß er nicht in der Lage gewesen war, die Münzen aufzuheben. Er erdachte sich eine künstliche Rechtfertigung: Am Morgen wollte er sich darüber freuen, daß Geld in seinem Zimmer herumlag.
    Die Tage vergingen wie ein gleichmäßiger Ton. Mit geschlossenem Gehirn verrichtete er seine Arbeit. Er bemühte sich, an nichts zu denken. Und doch brachte sein Kopf immer wieder Gefühle und Bilder hervor. Einmal

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