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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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eigentliche Fundament, nämlich der biografisch gewollte Zusammenfluß zweier Leben, sei gar nicht mehr nötig. Dann entwickeln sich, liebe, liebe Frau Schönböck, so merkwürdige Beziehungen von Angestellten, wie wir beide eine angefangen haben. Und weil Abschaffel dann in Fahrt sein würde und spüren könnte, daß es wirklich die Wahrheit war, was er zu sagen hatte, würde er weitermachen. Wir haben dem täglichen Einandersehen nicht mehr standhalten können, liebe Gabriele, ohne endlich auch die größere, die familiäre Dimension aufzugreifen. Und als wir dann wirklich etwas miteinander zu tun bekamen, merkten wir, daß es nicht funktionierte. Und das ist auch kein Wunder, denn wir haben den zweiten vor dem ersten Schritt getan. Was dabei herauskam, ist ein kleines, schmutziges Unglück, das ein Unglück bleiben wird, weil wir unseren ersten Schritt niemals nachholen können. Wir wissen nicht, wie unser erster Schritt, das gewöhnliche und normale Kennenlernen, ausgesehen hätte. Und an den Übertreibungen, in die das tägliche Büroleben uns hineingetrieben hat, sind wir nicht schuldig. Wir brauchen uns deswegen nicht zu entschuldigen. Aber wir wissen nun, was es mit unserer Geschichte auf sich hat, liebe Gabriele, und deswegen sollten wir freundlich, aber vollkommen kalt die Finger von uns lassen.
    Er hielt den Brief in der Hand und war überzeugt, daß Frau Schönböck von alldem, was er eben gedacht hatte, kein Wort verstand. Er selbst fand, er hatte die Wahrheit noch nie so genau gewußt. Er hätte sie gern im Kopf behalten, aber er fühlte, daß sie für ihn selbst zu kompliziert war. Kaum hatte er sie gedacht, entglitt sie ihm wieder, und nach einer halben Stunde wußte er nur noch, daß er an diesem Abend etwas Wahrhaftiges gedacht hatte. Es war ihm immer noch nicht klar, wie er sich verhalten sollte. Ein sofortiger Anruf wäre nur möglich gewesen, wenn er die Wahrheit hätte sagen können. So verschob er wieder alles auf morgen. Morgen mittag würde ihm sicher irgend etwas einfallen. Er legte sich ins Bett und versuchte, noch einmal etwas von dem zu finden, was er zuvor gedacht hatte. Er fand nichts mehr davon; statt dessen ging er dazu über, Frau Schönböck zu beschimpfen. Warum mischte sie sich immer wieder auf so hinterhältige Weise in sein Leben ein? Warum hatte sie ausgerechnet ihn ihren Ehemann spielen lassen? Und jetzt hatte sie ihm wieder diesen Brief geschrieben, das heißt, sie erzwang eine Fortsetzung. Er ging noch einmal aus dem Bett heraus, um zu pinkeln, und in der Toilette stehend konnte er ausgezeichnet schimpfen. Warum bieten Sie sich als mein Opfer an, Frau Schönböck? fragte er. Macht Ihnen das Spaß? Und warum geraten Sie ausgerechnet an mich, und zwar immer wieder, obwohl Sie inzwischen wissen, daß ich Ihre Angebote höchstens verbrauche, aber nicht schätze? Wahrscheinlich wartete Frau Schönböck darauf, daß er noch heute abend anrief. Er überlegte, womit er sich morgen herausreden konnte, und schlief darüber ein.
    Am folgenden Morgen konnte sich Abschaffel nicht mehr erheben. Im Augenblick, als er, wie er es immer machte, im Bett die Beine anhob, um auf den Boden zu gelangen, erfaßte ihn im Rücken ein durchdringender, lähmender Schmerz. Er schrie auf und ließ die Beine auf das Bett sinken. Er konnte den Oberkörper nicht mehr bewegen. Es war, als hätte er ein eisernes Korsett um den Körper. Die liegende Haltung, in der er die Lähmung und den Schmerz empfangen hatte, schien vorerst die einzige Haltung zu sein, die ihm noch möglich war. Er fand heraus, daß seine Beine nicht betroffen waren. Er konnte sie anziehen und wieder strecken. Das Anheben der Beine war nicht möglich, weil die Anspannung der Muskeln in den Rücken hineinreichte, und dadurch brachte er sich in die Nähe des Schmerzbereichs. Sein Blick war an die Zimmerdecke gerichtet. Die Angst hatte seinen Mund trockengelegt. Am Hals und an der Brust sonderte er viel Schweiß ab. Eine Stunde, vielleicht auch eineinhalb (auf seine Armbanduhr konnte er nicht sehen), waren inzwischen vergangen. Mit unbewegtem Gesicht hatte er vor einer halben Stunde ein wenig geheult. Er ließ es schnell wieder, als er bemerkte, daß das Schluchzen, weil es Erschütterungen in den Rücken weiterleitete, ebenfalls Schmerzen hervorrief. Er ging dazu über, kleine Bewegungen auszuprobieren. Den geringsten Versuch, den Kopf zu heben oder gar den Rücken, beantwortete der Körper mit schwerem Schmerz. Er versuchte, den Körper auf

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