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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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die Seite zu drehen. Nach links und rechts war offenbar schmerzfreie Bewegung möglich. Er überlegte, daß es vielleicht noch einen einzigen Verlauf zusammenhängender Bewegungen gab, und er mußte diesen Verlauf herausfinden. Es ging Zentimeter um Zentimeter. Mitten in seine Anstrengungen hinein klingelte einmal das Telefon, und er brach seine Versuche ab, um dem Klingeln des Telefons zuzuhören. Es war, als wüßte der Anrufer, daß Abschaffel zu Hause war. Es klingelte lange. Er erinnerte sich, daß er selbst oft von der Firma aus in seine leere Wohnung hinein das Telefon hatte klingeln lassen. Jetzt kam es ihm vor, als sei er selbst auch derjenige, der bei ihm anrief, und zugleich war er fast davon überzeugt, nicht zu Hause zu sein. Es setzte sich das Gefühl durch, er selbst sei sowohl der Anrufer als auch der Angerufene, und das Klingeln sei eine Art Spiel, eine abgekartete Mitteilung zwischen sich und ihm. Nach dem sechsten oder siebten Klingeln war das Telefon wieder still, und Abschaffel setzte seine kleinen Bewegungen wieder fort. Er spürte, daß er schon wieder zuversichtlicher war. Fast zwei Stunden, von halb sieben bis halb neun, hatte er in bewegungsloser Angst zugebracht. Seit einer halben Stunde arbeitete er daran, seinen Körper auf die Seite zu drehen. Sein Rücken war ein vereister, fremder Block geworden, der ihm nicht mehr anzugehören schien. Warum mußte er ihn aber dann noch transportieren? Er fühlte sich an wie mit Seilen zusammengezogen und dann weggelegt. Nach einer weiteren halben Stunde lag er auf der rechten Seite. Sein Unterhemd war naß. In der seitlichen Stellung ruhte er aus und sammelte Kräfte. Er mußte versuchen, den Körper aus der Seitenlage heraus aufzurichten. Dazu brauchte er unbedingt den rechten Arm als Stütze. Sein rechter Arm war im Augenblick noch zwischen Körper und Bett eingeklemmt, und Abschaffel versuchte, den Arm unter dem Körper hervorzuziehen. Aber er war zu schnell und unvorsichtig. In der rechten Schulter schlug ein elementarer Schmerz ein, der ihn so einschüchterte, daß er für mehr als eine halbe Stunde alle Versuche unterbrach. Er ließ den Kopf auf die zusammengedrückte rechte Schulter sinken. Aus Erschöpfung blieb er ruhig liegen. Sein Kopf wußte nichts Besseres, als sich wieder Sorgen zu machen. Die Eltern waren schon wieder dran! Mußte er ihnen seine Erkrankung mitteilen? Möglicherweise reisten sie dann an und wollten ihm auf ihre kindische Weise helfen, und das wollte er nicht. Vielleicht packte die Mutter zwei belegte Brötchen aus und forderte ihn auf, sie zu essen. Fast wäre er eingeschlafen. Aber er wollte nicht einschlafen, sondern seinen Körper aus dem Bett bringen. Er mußte wieder von vorn anfangen.
    Um elf Uhr saß Abschaffel aufrecht auf dem Bettrand. Der Schweiß rann ihm rechts und links von den Schläfen herunter. Es war ihm möglich, die Schultern so weit an das Gesicht heranzudrücken, daß er sich den Schweiß von den Wangen und Ohren wischen konnte. Aber er war guter Stimmung. Er hatte in viereinhalb Stunden herausgefunden, daß er alles, was nicht Rücken war, bewegen konnte: Arme und Beine, Unterleib, Hals und Kopf. Nur der Rücken mußte unbedingt aus dem Spiel gelassen werden. Um halb zwölf gelang es ihm, sich aufzustellen. Als er hörte, wie seine Füße in den Hausschuhen in kleinen Einheiten über den Boden schlurften, fühlte er sich bereits wie im Krankenhaus. Er achtete darauf, nirgendwo anzustoßen. Er glaubte, wenn er mit dem Oberkörper nur einen Schrank oder Türrahmen streifte, würde ihm die Berührung gleich ein Loch in den Körper reißen. Er lief eine Weile umher, und jedes Schrittchen, das er hinter sich brachte, beruhigte ihn. Über die Erfahrung, daß er wieder gehen konnte, wenn auch langsam und ängstlich, glitt ihm ein wäßriger Tränenfilm über die Augen. Er wußte nicht, was mit ihm los war, aber er hatte das Gefühl, das Schlimmste bereits hinter sich zu haben. Kurz vor zwölf klingelte das Telefon; nach dem fünften Klingeln war er am Apparat angelangt. Es war Frau Schönböck. Herr Abschaffel, sagte Sie, was ist denn eigentlich mit Ihnen los? Ja, wie soll ich sagen, sagte er. Ich habe Ihnen einen Brief geschrieben, sagte sie. Vielen Dank, sagte er, wir müssen uns über dieses Problem unterhalten, ja. Aber leider, äh, geht das im Augenblick nicht. Sind Sie krank, fragte sie. Ja, sagte er. Soll ich Sie zum Arzt bringen? fragte sie. Nein, nein, um Gottes willen, das ist nicht nötig,

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