Abschaffel
ihm Hornung ein wenig leid, und damit hatte er nicht gerechnet. Er wünschte ihm ein anderes Schlafzimmer. In dieser Rumpelkammer durfte kein Mensch übernachten. Fräulein Schindler erzählte schon wieder davon, daß sie gestern nacht um vier Uhr an drei Baustellen insgesamt sechzehn Backsteine gestohlen hatte. Sie brauchte sie für ein Bücherregal, die Bretter dazu hatte sie schon. Offenbar war es das erste Mal, daß sie etwas gestohlen hatte, und der gelungene Diebstahl machte ihr eine freche Stimme. Abschaffel war schon wieder auf der Toilette. Konnte er im Vorraum der Toilette nicht seinen Schreibtisch aufstellen und hier arbeiten? Das Toilettenpapier trennte sich nicht mehr sauber voneinander, und er ärgerte sich darüber. Wahrscheinlich wieder eine Sparmaßnahme von Ajax. Früher hatte es teures, hellgrünes, zweilagiges Toilettenpapier mit einer exakten Perforierung gegeben. Nun hing eine harte und graue Rolle da, von der sich die Blätter nur mit Rissen trennen ließen. Wußte davon eigentlich der Betriebsrat? Wahrscheinlich nicht. Als er die Toilette verließ, erzählte Hornung, wie er in der gestrigen Nacht nach Hause kam. Er erzählte es munter und lustig. Abschaffel hörte ihm zu.
Am Abend des zweiten Tages nach dem Geburtstagsausflug fand Abschaffel in seinem Briefkasten einen Brief von Frau Schönböck. Er riß ihn im Treppenhaus auf und holte einen halben Bogen Papier heraus, auf dem ohne Anrede nur zwei Zeilen standen:
Bitte sagen Sie mir, was ich falsch gemacht habe. Ich kann nicht verstehen, daß Sie mich so schneiden.
G. Schönböck
Er steckte den Zettel in den Umschlag zurück und ging in seine Wohnung. Die Post hatte vergessen, die Briefmarke auf Frau Schönböcks Brief abzustempeln, und er schnitt die Briefmarke herunter und legte sie in einen Teller mit Wasser. Als sie vom Papier abgetrennt war, fönte er die Marke und überlegte sich, wem er einen Brief schreiben konnte. Es fiel ihm niemand ein, und er legte die Briefmarke in ein Buch. Er schaltete kurz den Fernsehapparat an und hörte, daß in Österreich ein Ferienbus mit vierundzwanzig Kindern eine tiefe Schlucht hinabgestürzt sei. Er schaltete den Apparat wieder aus und schüttete ein altes Glas Wasser weg, das tagelang in seinem Zimmer gestanden hatte und schon trüb geworden war. Ganz langsam gelang es ihm, sich mit dem Brief von Frau Schönböck zu beschäftigen. Er gab sich zu, daß ihn der Brief überraschte. Sie mußte ihn am Tag nach der Geburtstagsfeier geschrieben haben. Er las den Brief noch einmal. Sie verstand nicht, daß er sich so zurückhielt. G. hieß Gabriele. Er überlegte, ob er Gabriele zu ihr sagen könnte, und er fand, daß es nicht möglich war. Er beschloß, sie am nächsten Tag anzurufen. Aber wann am nächsten Tag? Morgen früh um halb neun spätestens sah er sie wieder. Dort konnte er sie sehen und mit ihr sprechen, aber nicht mit ihr telefonieren. Er machte sich mühsam klar, daß es Unsinn war, sie erst morgen anzurufen. Er mußte es sofort tun. Das konnte er aber nicht, weil er gar nicht wußte, was er ihr sagen sollte. Aber morgen wußte er es natürlich auch nicht. Die Wahrheit, wenn es je auf sie angekommen wäre, war wieder einmal so, daß niemand sie gebrauchen konnte. Er stellte sich vor, wie es wäre, wenn er Frau Schönböck die Wahrheit sagen könnte. Frau Schönböck, müßte er dann sagen, die Wahrheit ist, daß ich nicht weiß, warum ich Sie so schneide. Das müssen Sie doch wissen, rief sie dann sicher aus, Sie haben doch auch mit mir geschlafen! Dann müßte er kühl bleiben und sagen: Die Wahrheit ist, liebe Frau Schönböck, daß ich leider auch nicht weiß, warum ich mit Ihnen geschlafen habe. Es liegt vielleicht daran, daß wir dauernd in diesem Büro zusammen sind und irgendwann meinen, wir müßten unbedingt etwas miteinander zu tun haben, weil wir uns eben immer wieder sehen müssen. Verstehen Sie das bitte, Frau Schönböck. Jede Firma, liebe Gabriele, auch unsere Firma, ist eine Scheinfamilie. Wie die Angehörigen einer echten Familie sehen sich die Mitarbeiter einer Firma Tag um Tag. Uns fehlt jedoch das Fundament einer richtigen Familie, das biografische, persönlich gewollte Zusammengehen von zwei Familiengründern, von Mann und Frau. Was wir dagegen haben, ist nur der Zufall gleicher Arbeitsstellen. Wenn man nun, wie wir, über Jahre hinweg zwar eine Notwendigkeit familiären Lebens aufzubauen gezwungen ist, nämlich das tägliche Einandersehen, entsteht die Illusion, das
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