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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Schönböck fuhr mit ihm zuerst in das Institut im Westend und gab die Blutentnahme ab. Danach verspürte er den Wunsch, sie loszuwerden. Aber sein Wunsch war ohne Chance. Frau Schönböck hatte sich ein privates Zusammensein mit ihm redlich verdient. Sie wartete darauf, daß er sie einlud. Als er schwieg, fragte sie, ob sie ihm etwas einkaufen sollte. Er lehnte müde ab. Aber dem Druck, den sie durch ihre Liebenswürdigkeit erzeugt hatte, konnte er dennoch nicht standhalten. Er lud sie für morgen abend zu sich in die Wohnung ein. Dann koche ich etwas für uns! rief sie aus. Verdutzt sah er zu, wie sie sich freute.
    Später, als er allein in der Wohnung war, bemerkte er, daß ihm das Heftpflaster gefiel, das ihm Dr. Wägele auf die Innenseite des Armgelenks geklebt hatte. Jedesmal wenn er den Arm knickte, spürte er das Pflaster, und jedesmal fühlte er sich erleichtert daran erinnert, daß er krank geworden war und vorübergehend aus der Welt ausgeschieden war. Morgen brauchte er nicht zu arbeiten. Das Bettzeug räumte er an diesem Tag nicht mehr auf. Er zog nur das Laken ein wenig glatt und schüttelte das Kopfkissen dreimal hin und her. Sein Rücken schmerzte zwar, und bestimmte Bewegungen durfte er nicht ausführen, aber seine Wohnung war warm, und Abschaffel fühlte sich gut. Morgen mußte er nichts tun, als sich im Büro krank melden und einen Röntgentermin bei Dr. Schmücker vereinbaren. Und natürlich einen Abend mit Frau Schönböck verbringen; das hätte er schon fast wieder unterschlagen.
     
    Die Nacht war problemloser, als er es sich vorgestellt hatte. Dreimal war er nur aufgewacht wegen zu großer Schmerzen. Fast die ganze Nacht hatte er auf der Seite gelegen. Er hatte nicht gewagt, sich auf den Rücken zu drehen. Und sein Körper hatte sich offenbar schon an die neuen Einschränkungen gewöhnt. Wenn die Schmerzdichte zu stark wurde, zog sich der Körper freiwillig zurück. Am Morgen gab er sich Mühe, das Frühstück in die Länge zu ziehen. Er stellte das Radio ein und suchte den AFN Frankfurt. Früher hatte er an Wochenenden fast ununterbrochen AFN gehört, und eine Zeitlang hatten ihm sogar die Nachrichten gefallen. Damals, als Kissinger amerikanischer Außenminister gewesen war und immerzu im Nahen Osten umherflog. In fast jeder Nachrichtensendung war Kissinger wieder woanders. Fast jeden Tag traf Kissinger den König Feysal, und Abschaffel kicherte über den Nachrichtensprecher, wenn er wieder und wieder sagte: Kissinger mets King Fäsl at Damaskus. Und zwei Stunden später mets Kissinger einen anderen King in einer anderen heißen Stadt. Aber das war schon lange her. King Fäsl war von einem Meuchelmörder umgebracht worden, und Kissinger, ja, was war eigentlich aus ihm geworden? Abschaffel trug sein Frühstück ins Zimmer, hörte Musik vom AFN und überlegte, was aus Kissinger geworden war. Er war verschwunden, sein Name wurde nicht mehr genannt. Vielleicht war er Angestellter geworden und saß jetzt, genau wie Abschaffel, in einer kleinen Wohnung beim Frühstück und überlegte: Mein Gott, wie ist das alles gekommen?
    Später meldete er sich bei Frau Morlock krank und rief Dr. Schmücker an. Drei Tage später bekam er einen Termin. Er wusch sich vorsichtig und ausführlich und ging in die Stadt. Auf dem Bürgersteig fuhren Kinder auf eleganten Fahrrädern. Abschaffel ertrug die Kinder eine Weile, dann aber wollte er auf sie losgehen: Verdammt noch mal, der Bürgersteig ist für Fußgänger da. Die Kinder fuhren gekonnt um ihn herum, und er stieß seine Beschimpfungen nicht aus. Er gestand sich ruhig ein, daß es vielleicht nur eine Frage der Zeit war, bis er wirklich Kinder anpöbelte. Er war grundsätzlich nicht dagegen gefeit, ein cholerischer alter Mann zu werden. In zwanzig Jahren vielleicht, dachte er, oder in fünfzehn, oder vielleicht noch früher? Glücklicherweise geriet er vor die Schaufenster einer Bausparkasse, in denen Modelle der Häuser standen, die die Bausparkasse ihren Kunden baute, wenn sie genug Geld eingezahlt hatten. Von einigen Modellen waren die Dächer abgenommen, so daß man in das Innere der Häuser sehen konnte. Ihm gefielen die Häuschen, und er hätte gern eines mit in die Wohnung genommen. Er ging in ein Café, um sich auszuruhen. Von außen hatte das Café ruhig und distanziert ausgesehen, aber in dem Café saßen zehn oder zwölf Schüler an drei Tischen. Der Lärm in diesem Café war wahrscheinlich noch stärker als der Lärm auf der Straße, aber Abschaffel

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