Abschaffel
Kurklinik. Abschaffel schenkte sich eine zweite Tasse Kaffee ein. Herr Wildgruber erzählte wieder eine Geschichte. Abschaffel war über sein Diätfrühstück gebeugt und kaute sein Knäckebrot mit langsamer Genauigkeit. Das Knäckebrot füllte, wenn es gekaut wurde, den Schallraum des Kopfes mit einem gleichmäßigen, mahlenden Geräusch aus, und dadurch war es möglich, das Gerede der anderen weitgehend zu überhören. Allerdings durfte das Mahlgeräusch im Kopf nicht allzulange anhalten; dann nämlich entstand das Gefühl, daß der Kopf innen langsam abbröckelte.
Eine halbe Stunde nach dem Frühstück, von 9 Uhr 30 bis 10 Uhr 30, hatte Abschaffel Analyse bei Dr. Buddenberg. Er wußte noch gar nicht, was er dem Analytiker heute erzählen sollte. Er hatte ihm schon manches von seinen Eltern erzählt, und er glaubte, nicht schon wieder mit ihnen anfangen zu können. Langsam leerte sich der Speisesaal, und Abschaffel kam ins Überlegen. Er mochte es, an einem Tisch übrigzubleiben. Dr. Buddenberg war für ihn eine Person geworden, der er von Zeit zu Zeit etwas mitteilen mußte, und es sollte etwas Gehaltvolles sein, wenn er schon sprechen mußte. Er konnte doch nicht ankommen mit lächerlichen Bürogeschichten oder gar mit Einzelheiten darüber, wie er normalerweise lebte. Dr. Buddenberg seinerseits schwieg meistens. Er war freundlich, bat ihn, Platz zu nehmen, aber dann schwieg er meistens die ganze Stunde. Nur in Ausnahmefällen fragte er nach, wenn er etwas nicht richtig oder vollständig genug verstanden hatte.
Er wischte sich den Mund ab und verließ den Speisesaal. Er hatte immer noch eine halbe Stunde Zeit; im Foyer wollte er sich nicht aufhalten, weil er sich dort von zu vielen Personen beobachtet fühlte, und in sein Zimmer wollte er ebenfalls nicht mehr zurück. Er entschloß sich, eine Weile in die Toilette zu gehen. Die Toilette war groß und weiß und leer. Er wusch sich langsam die Hände. Der Handtuchautomat neben dem Waschbecken erinnerte ihn wieder an die Firma. Auch hier war der Satz HANDTUCH MIT BEIDEN HÄNDEN BIS ZUM ANSCHLAG HERUNTERZIEHEN verunstaltet. Aus dem Wort Anschlag waren das N und die Buchstaben LAG herausgekratzt worden, so daß der Satz auch hier hieß: HANDTUCH MIT BEIDEN HÄNDEN BIS ZUM ASCH HERUNTERZIEHEN . Abschaffel schloß sich in einer Kabine ein, und wenig später hörte er Schritte eines anderen Toilettenbesuchers, der im Vorraum stehenblieb und pinkelte. Als der Unbekannte draußen rülpste, erschrak Abschaffel in seiner WC-Kabine; er verhielt sich ganz still, weil er dem rülpsenden Mann die Idee, er sei allein, nicht zerstören wollte. Der Mann wusch sich die Hände und verließ dann die Toilette, und damit wich auch von Abschaffel die Anspannung. Aus Schreck war es ihm nicht gelungen, seine eigenen Ausscheidungen loszuwerden, es sei denn, daß auch der Schreck zu den Ausscheidungen gehörte. Aber gab es das: schied der Mensch Schrecken aus wie Gerüche oder Schleim und Kot?
Dr. Buddenberg empfing ihn gewohnt freundlich. Abschaffel setzte sich in den weichen tiefblauen Patientensessel. Das Zimmer lag zu ebener Erde, und Abschaffel sah durch das Fenster hinaus auf einen gefrorenen braungrauen Acker. Abschaffel sagte lange nichts. Er fühlte sich nicht gut; eigentlich hielt er alles für mißlungen und wollte sofort nach Hause. Dr. Buddenberg saß im Hintergrund des Zimmers ebenfalls in einem Sessel und fuhr sich langsam mit einem Fingernagel über den Hosenstoff. Sie haben in der letzten Stunde erzählt, daß ihre Eltern so oft Streit miteinander hatten, sagte Dr. Buddenberg leise. Ja. Wann hatten sie denn Streit, bei welchen Gelegenheiten, meine ich. Über das Geld zum Beispiel, begann Abschaffel, stritten sie sich jede Woche, eigentlich fast jeden Tag, wenn sie nicht zu müde dazu waren. Der Vater war eben beleidigt, weil das Geld, das er verdiente und zu Hause abgab, nicht ausreichte. Die Mutter beteuerte, daß das Geld nicht hinreichte, und sie war ihrerseits beleidigt, weil der Vater das nicht verstand. Für mich war das schwierig, erzählte Abschaffel, weil ich nie wußte, welche Partei ich ergreifen sollte. Eigentlich war ich immer Mutters Partei. Aber der Vater tat mir auch leid. Es war alles nicht zu verstehen, aber das habe ich damals nicht verstanden. Letzten Endes war ich aber doch auf der Seite der Mutter. Sie war die Schwächere, sie hatte die leisere Stimme, und meistens fiel ihr zur Verteidigung schon bald nichts mehr ein. Es war überhaupt erstaunlich,
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