Abschaffel
daß er gar nicht wußte, an wen er eigentlich schreiben könnte. Es fiel ihm Margot ein, aber Margot spielte nur noch in seinem Kopf eine Rolle, in seinem Leben nicht mehr. Er glaubte, sie wohnte hinter seiner Stirn, aber ihre Adresse wußte er nicht. Seinen Eltern hatte er gar nicht gesagt, daß er für sechs Wochen eine Kur machte. Er hätte es ihnen auf einer Postkarte mitteilen können, aber dazu fehlte ihm der Mut. Das Leben der Eltern war für sie selbst schon schwer genug, und es durfte durch eine beunruhigende Postkarte nicht schwerer gemacht werden. Es blieb nur Frau Schönböck übrig, aber eine Postkarte an Frau Schönböck war ausgeschlossen. Trotzdem setzte sich Abschaffel an ein kleines Schreibpult. Noch einmal überlegte er, an wen er schreiben konnte, aber er kam nur wieder auf dieselben Personen. Er frankierte die leeren Postkarten und steckte sie in die Innentasche seines Sakkos. Er ging in eine Seitengasse, in der es so still war wie in einer leeren Wohnung; er begann sich großen Lärm vorzustellen. Rechts eine Riesenbaustelle, links ein Flughafen. Und weil ihm dieser Lärm immer noch nicht genügte, verspürte er Lust, über das Dorf und die Landschaft ungeheure Lügen zu verbreiten. Haben Sie schon gehört, im Inneren der Berge werden zur Zeit Schächte gebohrt, und in die Schächte werden Fahrstühle eingebaut, damit man in Zukunft bequem und sofort auf die Gipfel der Berge gelangen konnte? So, das haben Sie noch nicht gehört? Dann wissen Sie sicher auch nicht, daß übermorgen damit begonnen wird, die Leerräume zwischen den Bergen mit Beton aufzufüllen, damit obendrauf Radrennen veranstaltet werden können?
Die Lügen gefielen ihm. Er erfand noch weitere (der Fertigbeton wird übrigens aus Flugzeugen von oben in die Täler geworfen und wird sofort hart), bis er an einem Eckhaus ein paar Kinder spielen sah. Sie spielten auf vier steinernen Treppen, die zu einem Hauseingang hochführten. Die Mädchen trugen Kopftücher und Zöpfe, dicke Wollwesten und Hosen, die Jungen geflickte Jacken und Mäntel, und auf den Köpfen hatten sie Zipfelmützen, tief herunter in die Stirn gezogen. Abschaffel sah ihnen zu, und er fand, daß die Kinder alt aussahen, weil sich ihre Kleidung kaum von denen der Erwachsenen unterschied. Sie waren allein, und sie spielten mit sich und den unbeweglichen Treppen. Auch sie sahen zu ihm hin und grinsten. Er hielt die Kinder für hoffnungslos unwissend und früh veraltet. Ein kleines Sportflugzeug flog über das Dorf. Die Kinder blickten an den Himmel. Ein Mädchen fragte: Ist der Flieger echt oder aus Plastik? Die anderen Kinder versicherten, es sei echt, und Abschaffel, der die Unterhaltung halb mithörte, begann seine Einschätzung zu ändern. Er hatte sie unterschätzt, weil er sich von ihren Kopftüchern und Zipfelmützen vielleicht zu sehr hatte leiten lassen. Sie waren nicht unwissend, im Gegenteil. Genaugenommen waren sie im Verständnis der neueren Zustände vielleicht sogar weiter fortgeschritten als er selbst. Für ihn gab es Plastikbecher, Plastikbesteck, Plastikspielzeug und einen Plastikfingerhut. Ein Plastikflugzeug hielt er für ausgeschlossen und unmöglich, aber für die Kinder war es eine sichere Sache. Er sah sogar selbst an den Himmel und blickte dem kleinen Flugzeug nach. Gab es vielleicht wirklich schon Plastikflugzeuge, und er wußte es nur nicht? Verwirrt und geniert wandte er sich ab und ging weiter.
Er war nicht gewohnt, mit so wenig Zerstreuung auszukommen. Abschaffel betrachtete die Kleinwagen, die in nicht fertig gebauten Garagen standen. Sie gehörten den Arbeitern und Handwerkern, die in den kleinen Fabriken und Werkstätten der Umgebung arbeiteten. Neben den Garagen, im Freien, lagen verrostete und verdreckte Feldgeräte, die offenbar nicht mehr in Gebrauch waren. Hinter den Garagen war manchmal ein Lattenverschlag angebaut, in dem Arbeitsmaterial oder große Winterschlitten eingestellt waren. Und immer wieder die unglaublich kleinen Fenster der Bauernhäuser. Sie waren so klein, daß Abschaffel manchmal Zweifel kamen, ob sie wirklich für Menschen bestimmt sein konnten. Aber es waren ganz sicher Menschenfenster; manchmal wackelte ein Gardinenende, und für Augenblicke war der Schatten einer Gestalt und eines Gesichts bemerkbar. Ein angeketteter Hund sprang die ihm zugemessene Entfernung nach vorne und bellte Abschaffel von weitem an. Es kam ihm wie eine Erlösung vor, als er überraschend eine kleine Bäckerei sah, die er noch nicht
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