Abschaffel
ich zunächst gar nicht begreife, wie man Geld ohne Verheimlichungen und Verwicklungen einfach so ausgeben kann. Manchmal habe ich auch Lust, mich zu entschuldigen, wenn ich Geld ausgebe, oder ich habe Lust, mir Geld zu leihen, weil ich dann sofort in dem mir bekannten Gefühl der Verwicklung bin. Richtig quälend aber ist eine Empfindung, die ich glücklicherweise nicht oft habe. Sie stellt sich manchmal ein, wenn ich Geld ausgebe. Im Augenblick, wenn ich meine Geldscheine in der Brieftasche sehe, weiß ich dann nicht, ob ich ein Vater oder eine Mutter werde. Ob ich ein Vater bin oder eine Mutter, verstehen Sie das? Ob ich dauernd Geld kriegen will wie eine Mutter oder ob ich mir nicht lieber Geld abnehmen lassen möchte wie ein Vater. Dann würde ich am liebsten jemand meine Brieftasche geben und für mich zahlen lassen, weil ich die Unentschiedenheit dieser Frage kaum aushalten kann. Natürlich muß ich dann doch zahlen, das heißt wieder nicht wissen, wem von mir ich mein Geld abnehme und wem von mir ich es gebe. Das heißt, ich weiß nie, ob ich mich mit dem Geld betrüge oder ob ich mich bloß einlade.
Die Stunde war zu Ende. Dr. Buddenberg erhob sich und fuhr sich mit der rechten Hand über das Gesicht. Er stellte sich in gerader Haltung hinter seinen Schreibtisch und sah senkrecht von oben herunter auf seine Papiere. Abschaffel wartete darauf, daß er etwas sagte. Aber er nannte nur den Termin für die nächste Stunde. Abschaffel verabschiedete sich, ohne bemerkt zu haben, daß auch der Analytiker erschöpft war. Oben in seinem Zimmer fühlte Abschaffel Beklemmungen und Angst. Er wollte rasch aus der Klinik. Er wusch sich die Hände und putzte sich noch einmal die Zähne, danach fühlte er sich leichter. Er zog seinen Mantel an, kämmte sich und schlüpfte in seine Handschuhe. Er war erstaunt, wie sehr ihn diese Verrichtungen beruhigten.
Draußen war es kalt. Noch immer hatte es nicht geschneit, aber die Landschaft war so hart und so grau, als erwarte sie gemeinsam mit den Häusern den Schnee recht bald. Es waren nur wenige Menschen unterwegs. Eine junge Bäuerin fuhr mit einem altmodischen Kinderwagen umher. Als er die Frau überholte, sah er in den Kinderwagen hinein. Auf dem kleinen Kissen lag ein großer Kinderkopf, über dessen Stirn und Augen der Rand einer Wollmütze tief heruntergezogen war. Sogar noch die kleine Nase war unter der Mütze verschwunden. Dafür aber war der Mund des Kindes offen, und Abschaffel sah in das rosa, zahnlose Mundinnere hinein. Da glitt der Kinderwagen aus seinem Blick, und Abschaffel wußte nicht mehr, was er anschauen sollte. Die kleinen, ein- oder zweistöckigen Fachwerkhäuser, die rechts und links der Hauptstraße nebeneinander aufgereiht waren, standen für sich und zogen niemand an. Auch der Blick in die kleinen Schaufenster der wenigen Geschäfte gewährte kaum Abwechslung, weil die verwinkelten alten Inneneinrichtungen nur die weitere Enge der Häuser zeigten. Abschaffel seufzte. Wußten die Leute von Sattlach denn nicht, daß jeder Mensch, der ungewohnte und ungewöhnliche Sachverhalte ausgesprochen hatte, ein Anrecht auf Zerstreuung hatte? Zum erstenmal sehnte er sich nach der Beweglichkeit der Stadt. Er stellte sich das Erdgeschoß des kleinen, schmutzigen Kaufhauses Woolworth in Frankfurt vor, das ihm immer besonders gut gefiel. Die besseren Angestellten vermieden das Woolworth und gingen in den prunkvollen Kaufhof oder in das schnittige Hertie. Aber die anderen, die Gastarbeiter, die Arbeitslosen und Umsiedler, die Türken und die Pakistani, gingen ins Woolworth. Auch die Mehrzahl der Verkäuferinnen waren Ausländerinnen, und sie verkauften an ihre Landsleute die Gegenstände und Artikel, die in ihren Wohnungen zu finden waren: große, geschmacklose Tüllpuppen, schwere, schlechte Teppiche, kitschige Farbleuchten für die Kommode und billige braune Büstenhalter, die wie Obsttüten übereinander aufgestapelt waren. Abschaffel sah, wenn er nach Feierabend in der Stadt herumlief, gern diesen schlecht und unsicher gekleideten Leuten zu, wenn sie ihre Anschaffungen machten. Und bei Woolworth gab es junge Verkäuferinnen, die sich, wenn sie gerade nichts zu verkaufen hatten, schnell die Nägel abbissen und dabei ihr Gesicht verzogen. Oder sie zogen rasch kleine runde Spiegel hervor und schminkten sich ihre Lippen nach. Und es gab ältere Verkäuferinnen, die blitzschnell ihren verrutschten Unterrock wieder an die richtige Stelle zurückdrehen konnten, ohne den
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