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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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vielen Tischen saß ein Patient vom Typ des Angestellten Hornung. Sie hatten fast immer etwas Draufgängerisches zu erzählen, irgendeine Meinung zu vertreten oder wenigstens eine Abfälligkeit deutlich zu machen. Und sie hatten fast immer einige besonders verhemmte und verstörte Menschen um sich, die es offenbar als eine Art Lebensgarantie empfanden, wenn sie in der Nähe einer solchen Person sein durften. Wenn Abschaffel diese Angestellten reden hörte, dann hatte er für ein paar Augenblicke das bedrückende Gefühl, die ganze Welt hätte sich in eine Riesenfirma verwandelt, und noch nicht einmal am Mittagstisch einer Klinik war man sicher vor dem Geschwätz von Kollegen. Einer dieser tiefkranken, aber freudig mitteilsamen Patienten war Herr Elsner aus Düsseldorf. Er litt an rätselhaften Störungen im vegetativen Nervensystem und hatte fast immer Schmerzen. Herr Elsner gehörte zu den pastellfarbenen, dünnhäutigen Magenkranken, die häufig ihr Gesicht verzerrten, sei es, weil ihnen ein rasender Schmerz in den Magen fuhr, oder sei es, daß sie einen solchen Schmerz nur erwarteten. Spaßig sagte Herr Elsner: Was unternimmt mein Magen heute gegen mich? Bleibt er ruhig oder zwingt er mich nieder? Fast jeden Tag erzählte Herr Elsner, der sich Assistant Treasurer nannte, von seiner Arbeit. Er war Bankangestellter und fühlte sich toll. Manchmal tat er so, als sei er jeden zweiten oder dritten Tag in telefonischer Verbindung mit seinen Kollegen und Vorgesetzten in Düsseldorf. Eine seiner liebsten Posen bestand darin, so zu tun, als gebe es viele Dinge, die er noch heute telefonisch nach Düsseldorf »durchgeben« müsse. Ein anderer Vielredner war ein etwa vierzigjähriger Angestellter aus Peine, Herr Wildgruber. Seine Lieblingsgeschichte handelte von einem Mann aus Bad Ems, der einfaches Kochsalz violett eingefärbt, mit einem Duftstoff vermengt und es dann in kleinen Fläschchen als teures Arzneimittel verkauft hatte. Diese Geschichte brauchte er, damit er seine Überzeugung aussprechen konnte, im Leben immer betrogen worden zu sein. Er ärgerte sich sogar über die Zahnpasta, die er benutzte. Zahnpasta ist nichts anderes als gewöhnliche Schlämmkreide, sagte er, die mit ein bißchen Öl zubereitet ist, ein lächerliches Produkt, das sich jeder zu Hause selbst machen kann. Es war auffällig (für die anderen, für ihn nicht), daß er sich selbst immer erst dann als Betrogener bedauern konnte, wenn er zuvor einen fremden Betrüger bewundert hatte. Am gleichen Tisch saß eine etwa gleichaltrige Sekretärin, Frau Glauber, die wegen einer neurotisch bedingten Hautkrankheit hier war (ihre Arme und Hände waren rot vergrindet und schorfig). Frau Glauber hielt sich für besonders munter und nett. Sie und der Zahnpasta-Betrüger unterhielten fast täglich ihre Tischrunde. Frau Glauber war gepflegt gekleidet und gut frisiert. Sie wechselte jeden Tag die Bluse und fast jeden Tag auch ihre Brosche. Wenn sie sich an den Tisch setzte, sagte sie nicht Hallo, sondern Hallöchen, und wenn sie ging, sagte sie nicht Tschüs, sondern Tschöchen. Ihr Bedürfnis nach Sauberkeit und Nettigkeit ging an diesem Morgen so weit, daß sie Herrn Wildgruber, dem ein kleines Stück Ei am Oberlippenbart hängengeblieben war, mit einem unbenutzten Papiertaschentuch in der Hand fragte, ob sie es ihm entfernen durfte. Wenn Sie mich nicht umbringen, sagte Herr Wildgruber, und schon wieder waren die anderen vier Patienten am Tisch froh, über diese Antwort lachen zu dürfen. Ach, sagte Frau Glauber und wischte ihm über den Bart, wenn unser Stündchen gekommen ist, hilft uns keine Vorsicht mehr; der eine überlebt den Sturz aus seiner Wohnung im zehnten Stock, und der andere fällt vom Hocker und ist tot. Über diese Antwort kicherten sogar die Patienten am Nebentisch.
    Abschaffel sah konzentriert auf das weiße Geschirr auf dem Tisch. Jeder trank aus den klinikeigenen, bulligen Tassen mit den schweren Henkeln, und jeder aß von den gleichen weißen, schweren Tellern. Auf jeder Tasse und auf jedem Teller stand, in Versalien, der Schriftzug KURKLINIK SATTLACH . Die Bezeichnung Kurklinik war ein häusliches Entgegenkommen an die Patienten. Draußen an der Eingangspforte war klein und verwaschen auf einem dunklen Metallschild die korrekte Bezeichnung zu lesen: PSYCHOSOMATISCHE KLINIK SATTLACH . Das klang ernst, krank, sachlich und wirklich und war deshalb für die Patienten wahrscheinlich eine Zumutung. Im häuslichen Gebrauch firmierte das Haus als

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