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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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daß sie sich in diese Streitereien so oft hineintraute. Schon nach wenigen Minuten fiel ihr nichts Neues mehr ein; ich stand dabei und fühlte ziemlich genau, in welchen Augenblicken ihre Niederlage eine beschlossene Sache war. Dann war nur noch der Vater am Reden. Er redete und schimpfte in einem fort, und es hörte sich an, als sei er seit hundert Jahren ununterbrochen im Recht. Natürlich verteidigte ich die ganze Zeit die angegriffene Mutter, aber leider nur stumm. Meine Mutter aber schien zu ahnen, daß ich sie schützen würde, wenn ich sie hätte schützen können. Eines Tages begann sie, mir heimlich Geld zuzustecken. Ich hatte von Anfang an das Gefühl, daß die kleinen Beträge, die sie mir gab, eine Art Dank sein sollten für mein Mitfühlen. Das Geld gab sie mir meistens am Wochenende; es reichte für ein Eis und für einen Kinobesuch am Sonntagnachmittag in der Jugendvorstellung. Und ich ging bald dazu über, das Geld, das sie mir anfangs freiwillig und überraschend gegeben hatte, direkt von ihr zu erwarten. Das heißt, ich mußte ihr immer wieder gute Gelegenheiten bieten, damit sie mir unbemerkt zwei Mark zustecken konnte. Die Sonntage waren für diese Gelegenheiten meistens gut geeignet; der Vater hielt sich sonntags morgens lange im Bad auf, weil er dazu an den Werktagen keine Zeit hatte. Ich dagegen hielt mich, wenn der Vater im Bad war, im noch ein wenig abgedunkelten Wohnzimmer auf und wartete auf die Geldübergabe. Sie geschah wortlos und in größter Panik. Nach geglückter Geldübergabe hatte ich dafür zu sorgen, daß die Münzen in meiner Hosentasche nicht klimperten. Ich wickelte die beiden Markstücke – meistens waren es zwei Markstücke – fest in mein Taschentuch ein. Wenig später sah ich den Vater aus dem Badezimmer kommen. Sein Gesicht war so mißmutig, als hätte er sich immer gerade zum erstenmal darüber geärgert, daß das Geld nicht ausreichte.
    Abschaffel schwieg eine Weile. Dann sah er nach hinten zu Dr. Buddenberg, aber dieser rührte sich nicht. Abschaffel sah wieder auf den gefrorenen Acker und erzählte weiter. Ich meine jedenfalls, daß der Vater sonntags morgens schon verbittert war. Ich war zu dieser Zeit neun oder zehn Jahre alt, und ich saß Sonntag für Sonntag im Kino. Die Vorstellungen begannen um vierzehn Uhr, und ich sah Filme über Zorro, Tarzan, Ivanhoe und Störtebecker. Ich kann mich genau erinnern, daß ich noch im Kino gegen den Vater eingestellt war. Ich wurde Tarzan und kämpfte eineinhalb Stunden im dunklen Dschungelkino gegen den Vater. Ich ging sogar dazu über, dem Vater das idiotische Alltagstheater der Geldübergabe als Schuld anzurechnen. Wenn er sich nicht so grimmig verhalten hätte, wäre alles viel einfacher gewesen. Ich hätte dann sonntags nach dem Frühstück zwei Mark Kinogeld bekommen und hätte den Rest des Sonntags meinen Eltern dankbar sein können, sagte Abschaffel. Aber so war es leider nicht. Meine Mutter erhöhte die Beträge. Und nicht nur an Sonntagen, sogar an gewöhnlichen Dienstagen und Donnerstagen erhielt ich heimlich von ihr Geld. Ich war inzwischen zwölf oder dreizehn geworden, und ich begann, abends ins Kino zu gehen. Ich sah Filme mit Nadja Tiller und Peter van Eyck, mit Marianne Koch und Ewald Balser und Heinz Rühmann und Jean Gabin. Die Mutter fragte mich nicht, wo ich gewesen war. Das Kino hat mir sehr gut gefallen. Die Formen der Geldübergabe zu Hause wurden frecher und gewandter. Es gelang meiner Mutter, mir im bloßen Vorbeigehen Geld zuzustecken, und dies sogar dann, wenn der Vater im gleichen Raum anwesend war. Und in mir wuchs die Überzeugung, daß mein Vater ein ungeheuerlicher Trottel war. Wahrscheinlich war er schon immer so überrumpelt worden, wie ich ihn nun selbst überrumpelte. Beleidigt und böse lief er in der Wohnung umher und suchte nach Anzeichen dafür, wie schlecht er es im Leben getroffen hatte. Und weil er nichts entdeckte, setzte er sich traurig an seinen Schreibtisch und ordnete die Schreibtischschublade. Ich stellte mich neben ihn und sah ihm dabei zu, wie er seine Lineale, seine Notizbücher und seine Visitenkarten in die Hand nahm und sie wieder in die Schublade zurücklegte. Ich glaube, sagte Abschaffel, daß es im gefiel, wenn ich nahe bei ihm war und ihm zuschaute. Immerhin war ich für diese Zeit von seinem Mißtrauen ausgenommen. Ich spürte, daß er meiner Mutter nicht mehr vertraute. Er war ein hoffnungsloses kleines Arbeitstier, das an seine Verhältnisse ausgeliefert war. Und

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