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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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kannte. In der Bäckerei brannte sogar Licht. Abschaffel betrat den Laden, und es war ihm recht, daß zwei Frauen vor ihm warteten. Sie kauften nur Brot, und auch dies fast wortlos, weil sie es vielleicht nicht gewohnt waren, daß ein Fremder im Laden war. Die Bäuerin, die vor Abschaffel bedient wurde, hatte einen großen Geldbeutel, den sie geöffnet vor ihrem Bauch hielt; er war über und über mit Münzen gefüllt, und die Bäuerin fuhr mit dem gestreckten rechten Zeigefinger in der Tiefe des Geldbeutels umher, ohne jedoch die zur Bezahlung des verlangten Betrags notwendige Summe einzusammeln. Noch zweimal fuhr sie nervös mit dem Finger in den Münzen umher, dann holte sie aus dem hinteren Fach des Geldbeutels einen Zehn-Mark-Schein hervor und bezahlte damit ihr Brot. Sie erhielt wieder eine Menge Münzen zurück. War die Frau blind oder kannte sie die Münzen nicht? Oder war es möglich, daß sie nicht rechnen konnte? Abschaffel war so vertieft in das Verhalten der Bäuerin, daß er selbst langsam und umständlich wurde. Er wollte ohnehin nur einen Blätterteig; die Bäckersfrau packte das Stück ein, er zahlte und verließ den Laden.
    Langsam ging er den Weg zur Klinik hoch und aß den Blätterteig. Die Berge hinter den Klinikbauten waren im dunkelnden Nachmittagslicht wieder blauviolett geworden. Abschaffel war bisher nur einmal im Wald spazieren gewesen. Die Natur langweilte ihn. In den Bergen gab es nichts als schattige Wege. Es war ihm bis jetzt nicht möglich gewesen, zu diesen Bergen eine brauchbare Einstellung zu finden. Entweder machte ihn der Anblick der Berge übertrieben niedergeschlagen; es war eine Niedergeschlagenheit, die sich selbst als Übertreibung kennzeichnete, weil er sich so überdreht tragisch und vehement dabei vorkam, wenn er in dieser Stimmung die aufsteigenden Linien der Berge betrachtete. Wenn freundliches Wetter war, vielleicht sogar Wintersonne schien, dann reagierte er ebenso übertrieben locker und heiter. Diese unechte Leichtigkeit gefiel ihm auch nicht. Er war Natur überhaupt nicht gewohnt. Er war in einer Stadt aufgewachsen, und alles, was er von der Natur kannte, waren eingezäunte Vorgärten und Blumen zum Muttertag. Die sonderbaren Berge, die nirgendwo hinzuführen schienen, gingen ihm zu weit. Ihm war geläufig, in einer zwar überfüllten und häßlichen, aber gut beschrifteten Welt zu leben. In der Stadt war alles erklärt, und was nicht erklärt war, war nicht wichtig. An den Eingangstüren der Häuser stand, wer in ihnen wohnte oder arbeitete. Die Berge aber führten in endlose Weiten und verheimlichten das Leben ihrer Bewohner. In der Ferne erkannte Abschaffel manchmal einzelne Bauernhäuser; sie lagen weit auseinander, und aus ihren Schornsteinen zog heller Rauch. Er blickte lange zu diesen Häusern hinüber und spürte, wie ihn die Entfernungen bedrückten.
    Der Speiseraum der Klinik war groß und hell. Er lag im Erdgeschoß in einem abgesonderten Flachbau, an dessen langgezogener Fensterfront der Blick hinabglitt bis zu den Rückenansichten der eng zusammenstehenden Dorfhäuser. Die Wände des Speisesaals waren mit hellem Holz ausgeschlagen. Auf den stabilen Holztischen waren weiße Tischdecken ausgebreitet. An jedem Tisch saßen gewöhnlich sechs Personen. Es gab Patienten, die sich nicht genierten, eilig wie Kinder die Plätze an der Fensterseite zu besetzen. In diesen Personen erkannte Abschaffel die klein gebliebenen Angestellten, die nicht damit aufhören konnten, aus der Aufrechnung solcher kleiner Vorteile den Tagessinn ihres Lebens herauszuschlagen. Die Art, wie sie umsichtig durch die Doppeltür traten und dabei so taten, als sei es ihnen gleichgültig, welchen Platz sie einnahmen, erinnerte Abschaffel fast täglich an seine Kollegen bei Ajax. Es gab feste Sechsergruppen, die möglichst bei jeder Mahlzeit geschlossen an einem Tisch saßen. Er sah diese festen Gruppen auch bei Waldläufen und Spaziergängen, aber er hatte kein Bedürfnis, seine Mitpatienten kennenzulernen. Im Gegenteil, er wollte so lange wie möglich so tun, als sei er gerade erst angekommen. Die Arbeiter unter den Patienten bewegten sich linkisch und fremd und angestrengt; meistens trugen sie auffallende, grüne oder rosa Hemden und tiefgrüne oder tiefbraune Hosen mit scharfen Bügelfalten. Sie gingen leicht vornübergebeugt und nickten sich häufig zu. Die Angestellten bewegten sich sicherer; sie taten, als sei die Klinik die neue Firma, und erbrachten laufend Anpassungsleistungen. An

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