Abschaffel
irgendwann zog mich das Mitleid mit meinem Vater gewaltig auf seine Seite. Ich konnte es richtig spüren, und ich spüre es auch jetzt wieder, wenn ich dies sage, daß gewaltige Ströme des Mitleids in meinem Körper die Seiten wechseln. Es war gräßlich und furchtbar und unerträglich, sagte Abschaffel und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Er machte eine Pause und wischte sich über die Augen. Ich konnte die alte Ordnung der Gefühle nicht weiter aufrechterhalten. Ich war natürlich weiterhin meiner Mutter verpflichtet, ohne zu wissen, wie ich mich verhalten sollte. Sie gab mir ja immerhin Geld, und Geld ist ebenso wichtig wie die Liebe, vielleicht sogar viel wichtiger, aber das traut man sich nicht zu denken. Ich entdeckte, daß ich meinen Vater fortlaufend betrog, und zwar unter Anleitung meiner Mutter. Er verdiente das Geld, und zwar allein für die ganze Familie, er war hart gegen sich und leistete sich nichts, was über die tägliche Schachtel Zigaretten hinausging, und ich hinterging ihn mit heimlich empfangenen Taschengeldern. Er führte mir seine Entbehrungen vor, und ich verpraßte das Geld im Kino und im Eissalon. Der Vater versuchte, die Wahrheit des Geldes in seiner Familie zu finden, und sein Sohn, der dreizehnjährige Trickdieb, stand scheinheilig neben seinem Schreibtisch und wußte von nichts. Vor allem, seufzte Abschaffel, war nun der Beweis erbracht, daß genügend Geld in der Familie war. Es war sogar mehr als genug da, sonst hätte ich ja niemals Taschengeld bekommen können. Ich nahm natürlich weiter das Geld, aber jedesmal stattete ich ein Gefühl für den Vater ab. Oft hatte ich Lust, die Mutter an den Vater zu verraten. Das Allerschlimmste war, daß ich zum dauernden Taktieren gezwungen war, aus dem ich eigentlich bis heute nicht herausgekommen bin. Ich habe immer das Gefühl, irgend etwas verbergen zu müssen, übrigens völlig belanglose Dinge, ich meine nur immer, auch belanglose Wahrheiten müßten vor Entdeckungen geschützt werden, weil sie Teile einer großen furchtbaren Wahrheit sind, die niemals entdeckt werden darf. Ich war immer noch auf seiten der Mutter, aber tief innen verteidigte ich den Vater. Nur durfte die Mutter das nie merken, und sie bemerkte es auch nicht. Meine Mutter ist übrigens eine ziemlich blöde Kuh, Herr Dr. Buddenberg, das habe ich erst spät bemerkt. Sie gehört zu den Millionen Frauen, die zum Leben nicht viel mehr beitragen als die unablässige stumme Aufforderung, daß für sie gesorgt werden muß. Nein, das stimmt auch wieder nicht, verbesserte sich Abschaffel; sie wollte manchmal arbeiten, aber ihr Mann hat es nicht zugelassen, weil er als der alleinige Ernährer dastehen wollte. Es war alles verrückt und nicht zu verstehen, das habe ich Ihnen schon mal gesagt. In dem ganzen Durcheinander fand ich den Weg meines Vorteils: Geld nehmen, Gefühle behalten. Eigentlich herrscht meine Mutter heute noch über mich. Wenn ich heute meine Eltern besuche, dann verbindet mich mit ihr sofort eine Art Komplicenschaft, und das ist etwas sehr Intimes. Der Vater spielt nach wie vor die Rolle des Betrogenen, und ein Betrogener ist für die, die ihn betrogen haben, das Fremdeste, was es überhaupt gibt. Er ist nämlich nicht nur betrogen, sondern auch blöd und dumm, weil er die Betrüger immer wieder neu auffordert, ihn zu betrügen, ohne es je zu erfahren. Das heißt, ich habe das Gefühl meiner Mutter übernommen, wonach mein Vater ein dummer, einfältiger Mensch ist, der die anderen zwingt, ihn zu betrügen. Das Problem ist, daß ich diese Ansicht heute noch teile, aber mein Mitleid ist mächtig und wehrt sich gegen diese Ansicht. Und deswegen würgt mich diese Geschichte, wenn ich sie erzähle, tatsächlich habe ich sie noch niemals so ausführlich erzählt, und deswegen habe ich jetzt das Gefühl, als würgten mich die Hände meiner Mutter am Hals, weil ich diese Geschichte erzählt habe.
Abschaffel schwieg. Er fühlte sich erschöpft und bedroht. Zum erstenmal war er froh, daß er den Eltern seinen Aufenthalt in der Klinik nicht mitgeteilt hatte. Er glaubte sich nun wirklich vor Entdeckung geschützt. Dr. Buddenberg schwieg ebenfalls. Abschaffel hatte das Gefühl, über dieses Thema bis an das Ende seines Lebens reden zu können, weil dieses Thema sein Leben selbst war, aber er genierte sich. Er verstand nicht, warum Dr. Buddenberg nichts sagte. Jedesmal, sagte Abschaffel matt, wenn ich heute Geld ausgeben muß, kann ich es überhaupt nur zögernd tun, weil
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