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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Unterrock selbst unmittelbar zu berühren.
    Wie schön wäre es gewesen, wenn er nun das Woolworth hätte betreten und all das hätte sehen können! Aber er war in Sattlach, und hier gab es kein Woolworth. Jede kleine Ablenkung mußte er mühsam suchen. Am Fenster eines Textilgeschäfts war ein kleines Schild angebracht, auf dem handgeschrieben zu lesen war: SCHWARZE MÄNTEL IN GROSSER AUSWAHL . War dies ein Hinweis für ältere Frauen, die dem Tode näher waren als dem Leben und nicht mehr aus ihren schwarzen Kleidern herauswollten? Abschaffel sah sich um und achtete auf die Farben der Mäntel. Tatsächlich trugen die meisten Personen dunkle bis schwarze Mäntel. Auch die Kinder trugen dunkle Jacken und Mäntel. Nur wenige Kinder und ihre Mütter gingen heller gekleidet. Wahrscheinlich stammten diese Personen nicht aus Sattlach; die heller gekleideten Frauen fuhren in sauberen Kleinwagen vor die Geschäfte, hoben ihre Kinder vorsichtig aus dem Wagen heraus, kauften rasch ein und brausten wieder davon. Wahrscheinlich waren es die Frauen höherer Angestellter, die in den wenigen Fabriken der Umgebung arbeiteten. Die Eile dieser Frauen schien etwas mit Scham zu tun zu haben. Die einheimischen Frauen fuhren nicht in Autos zum Einkaufen. Sie hatten alte Ledertaschen an ihren Armen und gingen immer zu Fuß. Die langsame Art ihrer Bewegungen zeigte an, daß sie schon immer hier waren. Eine jüngere Frau, die für Sattlacher Verhältnisse ein wenig zu modisch gekleidet war, lief mit ihrem kleinen Kind umher. Das Kind nannte alles, was es sah, beim Namen, soweit es die Namen schon wußte. Es sagte Auto, Haus, Oma, Mann, Wauwau, und jedesmal bestätigte die Mutter die richtigen Bezeichnungen des Kindes. Abschaffel lief langsam an dem Kind vorbei und wartete auf den Augenblick, in dem das Kind das Wort Mann aussprach. Tatsächlich sah das Kind verwundert an ihm hoch und sagte dann das Wort Papi. Die Mutter war in der Nähe und lächelte vergnügt über die weitläufigen Irrtümer des Kindes. Abschaffel aber war leicht erschrocken und lief weg. War er denn schon so mitgenommen und verschlissen wie ein Vater?
    Erst der Anblick einer alten Bäuerin brachte ihn auf andere Gedanken. Die Frau beabsichtigte, die Straße zu überqueren, und sie machte es mit einer solchen Vorsicht, die er von Menschen, die lediglich eine Straße überqueren wollten, nicht kannte. Durch ihre Vorsicht wurde die Straße als etwas sichtbar, das dem menschlichen Leben erst später hinzugefügt worden war. Abschaffel sah auf ihre blankgeriebenen schwarzen Schuhe, die ihr bis über die Knöchel reichten. Solche Schuhe gab es heute gar nicht mehr zu kaufen; sie waren offenbar so gut gearbeitet, daß sie fast so lange zu tragen waren, wie ihr Träger lebte. Die Falten im Leder dehnten sich bei jeder Bewegung der Füße. Die Schuhspitzen ragten knapp über den Rinnstein der Straße. Noch immer schaute die Frau unschlüssig und ruckartig nach links und nach rechts und bemerkte nicht, daß sie ihrerseits beobachtet wurde. Vielleicht glaubte sie, daß jeder Mensch nur seines Weges ging und nach den getanen Erledigungen rasch wieder seine Wohnung aufsuchte. Abschaffel sah der Frau nach, bis sie in einer schmalen Gasse verschwunden war. Eigentlich wollte er sie ein wenig verfolgen, aber er bemerkte zum Glück, daß diese Verhaltensweisen nicht in das Dorf paßten. Oder doch? Er wollte ja nur die automatische Lebenssicherheit dieser Frau noch ein wenig anschauen. Wahrscheinlich verließ diese Frau überhaupt nicht das Haus, wenn sie außerhalb nichts zu tun hatte. Und wenn sie von Unruhe geplagt wurde, ging sie vielleicht nur ins Bett und schlief. Oder sie besorgte das Haus und stopfte die Wäsche und säuberte die Zimmer und verteilte auf diese Weise die Unruhe, wenn es sie gab, auf tausend kleine Tätigkeiten. Aber wenn sie so lebte, dann lebte sie doch gar nicht viel anders als er selbst. Auch er versteckte seine Unruhe in einer Vielfalt von scheinhaften Aktivitäten. Dann hätte ihrer beider Leben vielleicht mehr miteinander zu tun, als sie beide ahnten und als sie beide zuzugeben bereit gewesen wären. Auf einem kleinen Dorfplatz, dicht neben dem dicken Stamm eines hohen Baumes, sah er eine ganz neue, noch verpackte Telefonzelle stehen, die ihn sofort interessierte. Nur das gelbe, eiserne Dach der Fernsprechzelle ragte aus der Kartonverpackung heraus. Abschaffel verspürte Lust, auf den Mann zu warten, der die Fernsprechzelle auspackte. Dann würde er endlich

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