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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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zum erstenmal eine ganz und gar neue Fernsprechzelle sehen können, nachdem er bisher immer nur verbrauchte, verschmutzte und verwitterte Zellen gesehen hatte. Und er stellte sich vor, daß es schön wäre, wenn er als erster Mensch von dieser Zelle aus telefonieren würde. Und er würde als erster in einem ganz neuen Telefonbuch blättern, dessen dünne Seiten ihm so weich wie Sand durch die Hand glitten. Er trat an die verpackte Zelle heran und betrachtete sie aus der Nähe. Tatsächlich war sie rundum mit starkem Karton verpackt. Er überlegte schon, ob er sie nicht selbst auspacken sollte; aber die Verpackung war mit drei Stahlbändern fest an die Zelle gepreßt. Wie schön wäre es, als erster von der Zelle aus auf diesen Platz sehen zu können! Und dabei auch noch zu telefonieren. Und dabei so tun, als würde man während des Sprechens nichts sehen oder, noch viel schöner, als würde man während des Sehens eigentlich nur zum Schein sprechen! Aber die Zelle war dicht verpackt, und weit und breit war kein Mechaniker zu sehen, der sich hier zu schaffen machte. Wahrscheinlich würde die Zelle erst in den nächsten Tagen ausgepackt und angeschlossen. Welches Gespräch in Sattlach war denn schon dringend? Es wunderte Abschaffel ohnehin, daß nicht noch andere Bewunderer die neue Telefonzelle anstaunten. So selbstverständlich waren Telefonzellen in Sattlach keineswegs. Er nahm sich vor, jedesmal, sobald er im Dorf umherging, nach der Zelle zu sehen und vielleicht zufällig den Tag zu erwischen, wenn die Post sie zur Benutzung freigab. Wieder meldete sich seine Lust, auf diesen Augenblick einfach hier zu warten, aber es war unmöglich. Eben wandte er sich ab, da sah er im Wurzelwerk eines anderen Baumes, der unweit der Telefonzelle stand, einen weißen Zettel liegen, der ihm nur deshalb auffiel, weil er schön viereckig zusammengefaltet war. Er hob den Zettel auf und entfaltete ihn so vorsichtig, als hätte er ihn auch zusammengefaltet. SONDERGASTSPIEL SCHÜLERS BAUERNTHEATER las er auf dem Zettel. DIE MÄRCHENBÜHNE GASTIERT AM KOMMENDEN DONNERSTAG, DEM 19. JANUAR, UM 15 UHR, IM GASTHOF ADLER IN SATTLACH. Auf dem unteren Drittel des Zettels stand: ZUR AUFFÜHRUNG GELANGT: SCHNEEWITTCHEN UND DIE SIEBEN ZWERGE IN VIER AKTEN. KEIN PUPPENSPIEL! VON SCHAUSPIELERN IN ECHTER MÄRCHENGARDEROBE AUFGEFÜHRT! EINTRITT 2,50 DM.
    Abschaffel nahm den Zettel und steckte ihn ein. Wahrscheinlich war er von einem Schulkind auf dem Heimweg verloren worden. Er überlegte, ob er die Aufführung am kommenden Donnerstag besuchen sollte. Da sah er eine Patientin, die auf der anderen Straßenseite des Platzes gerade eine Metzgerei verließ. Es war eine Magersüchtige, die ihr Essen nicht bei sich behalten konnte. Wahrscheinlich hatte sie sich gerade wieder zwei belegte Brötchen gekauft, die sie nun irgendwo zu essen und im Magen zu behalten versuchte, und natürlich würde es ihr wieder nicht gelingen. Oder vielleicht doch? Abschaffel überlegte, ob er die Patientin verfolgen sollte. Er hatte bisher immer nur von anderen Patienten gehört, daß es dieser Frau nicht und nicht gelingen wollte, eingenommenes Essen im Körper zu behalten und zu verdauen und wieder auszuscheiden. Schon bald, wenn sie etwas zu sich genommen hatte, mußte sie sich übergeben, und es kam alles wieder heraus. Einen solchen dünnen Menschen hatte er zuvor niemals gesehen. In ihrer steckenartigen Gebrechlichkeit sah sie aus wie ein Gespenst. Wahrscheinlich hungerte sie sich zu Tode und wußte nicht warum. Was war es, was ihr das Leben so unannehmbar machte, daß sie es sich lieber langsam austrieb? Sie verließ rasch das Dorf und suchte eine stille Bank, um wieder einmal zu sehen, ob das Leben, wenigstens in Form zweier belegter Brötchen, nicht doch einmal bei ihr bleiben wollte. Zum Glück kam Abschaffel davon ab, sie heimlich zu beobachten, wenn sie sich wieder übergeben mußte, sich rasch den Mund abwischte und wieder ratlos blieb.
    Er ging hoch in die Klinik und legte sich hin. Er langweilte sich und versuchte ein wenig zu schlafen. Tatsächlich schlief er nach zehn Minuten ein, und er träumte, daß ihm immer wieder zwei Zähne herausfielen. Er war immer wieder damit beschäftigt, die Zähne in das Zahnfleisch zurückzustecken. Er hatte das Gefühl, als sollte er daran gewöhnt werden, daß die beiden Zähne zwar nicht verlorengingen, sich aber immer wieder lösten und neu befestigt werden mußten. Sie hielten nur kurz, Minuten, dann lockerten sie sich erneut

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