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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Visitenkarten. Er besaß ganze Stapel von Visitenkarten, die er niemals brauchte. Er hat sie heute noch, und wenn er niedergeschlagen ist, spielt er mit ihnen wie mit Spielkarten. Es sind die Karten, die sein Leben in zahlreiche, immer nach oben führende Besuche hätten einteilen sollen. Neben seinen Visitenkarten (ich weiß alles ganz genau, weil ich ja oft neben der herausgezogenen Schublade stand) lag sein Ring mit Monogramm obendrauf. Er zieht ihn tatsächlich für Minuten an, während er am Schreibtisch sitzt. Dann betrachtet er seine Hand mit Ring, und sie gefällt ihm. Dann legt er den Ring wieder zurück in das Schmucketui. Aber weil ihm selbst nichts gelungen war, sperrte er auch die Freude für die anderen Familienangehörigen. Denn er mußte immer wieder zurück in seinen Geiz, weil dieser höllische Geiz für ihn eine Möglichkeit war, mit der riesigen Enttäuschung fertigzuwerden. So war es, glauben Sie nicht auch, Herr Dr. Buddenberg? fragt Abschaffel. Aber Dr. Buddenberg schwieg. Einmal, stellen Sie sich das einmal vor, einmal hat eine Nachbarin, die ein paar Häuser weiter lebte, zu meiner Mutter gesagt, daß sie für mich ein paar gebrauchte, aber noch tadellose Schlittschuhe hätte, ob ich die nicht wollte? Meine Mutter bejahte und erzählte zu Hause die Geschichte, und ich wartete auf die Schlittschuhe. Aber die Schlittschuhe habe ich nicht bekommen. Die Nachbarin schien ihr schönes Angebot vergessen zu haben. Eines Tages traf meine Mutter die Nachbarin wieder, und da hörte sie, daß mein Vater bei ihr gewesen war und ihr gesagt hatte, sie solle die Schlittschuhe behalten. Zu Hause hatte er seinen Besuch bei der Nachbarin aber nicht erwähnt, weil wir denken sollten, die Nachbarin hätte ihr schönes Angebot von sich aus wieder rückgängig gemacht. Und warum habe ich die Schlittschuhe nicht bekommen? Weil dem Vater die fünfzig Pfennig Eintritt in das Eisstadion zuviel gewesen waren! Jawohl. Das hat er uns am Tisch gesagt, als meine Mutter davon anfing, daß sie die Nachbarin getroffen und erfahren hatte, daß der Vater die Schenkung rückgängig gemacht hatte. So war das, sagte Abschaffel. Er wollte weiterreden und noch viele andere Geizgeschichten erzählen, aber er konnte nicht mehr. Noch einmal und noch immer litt er an diesen Versagungen. Er hatte das Gefühl, gerade eben erst erfahren zu haben, daß er die Schlittschuhe nicht bekommen sollte. Er konnte nichts mehr sagen. Schweigend hielt er den Druck noch einige Minuten lang aus, dann verließ er das Zimmer von Dr. Buddenberg.
    Die Gymnastik half ihm, solche Wiederbelebungen alter Gefühle leichter zu überwinden. Am Anfang hatte er sich geschämt, sich in Turnhose und Turnhemd anderen Personen zu zeigen. In seinem Kurs waren zwei Stationsgruppen zusammengefaßt, Männer und Frauen, zusammen etwa vierzig Patienten. Der Gymnastiksaal war ein weiträumiger Flachbau. An zwei Seiten drang durch dicke Glaswände Tageslicht herein. Die Gymnastiklehrerin, Frau Hollinger, war eine freundliche, gepflegte Sächsin. In der Gymnastik sah Abschaffel fast jedesmal eine jüngere Patientin, die ihm gefiel. Er wollte bald versuchen, sie kennenzulernen. Sie war ungefähr so alt wie er, ein wenig kleiner, mit starkem Körperbau. Sie hatte dunkelbraune, fast schwarze Haare, die glatt herunterfielen; ihr Gesicht war blaß, fast gelblich, aber hübsch. Einmal hatte Abschaffel, als er durch Zufall während der Gymnastik neben sie zu stehen kam, ihren Schweiß gerochen. Der Geruch war angenehm, und er hatte sich sofort vorgestellt, daß er diesen Geruch in seinem Zimmer haben würde, wenn er mit ihr schlief. Aber wie sollte er sie kennenlernen? Er würde am liebsten so tun, als kennte er sie schon lange und sie ihn ebenfalls.
    Frau Hollinger eröffnete die Stunde mit der Hockerübung. Jeder nahm sich eine kleinen, stabilen Hocker. Schaffen Sie sich so viel Platz, daß Sie ihre Arme ungehindert nach vorn und nach den Seiten bewegen können, sagte Frau Hollinger. Im Halbkreis und in mehreren Reihen hintereinander setzten sich die Patienten um die Gymnastiklehrerin herum. Setzen Sie sich auf das erste Drittel des Hockers, und zwar so, daß Ihre Oberschenkel die Sitzfläche des Hockers nicht berühren. Stellen Sie Ihre Füße auf den Boden auf. Entspannen Sie Ihre Beine und den Körper, der Rücken wird dabei ganz rund, der Kopf fällt nach vorn, die Arme hängen an der Seite.
    Frau Hollinger sprach liebevoll und langsam wie zu kleinen Kindern. Nach und nach hörte

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