Abschaffel
und fielen wieder heraus. Alles, was er zu anderen Menschen sagte, mußte er schnell und gedrängt sagen, damit seine Rede nicht von herausfallenden Zähnen unterbrochen wurde. Durch starke Geräusche auf dem Flur wachte er nach einer halben Stunde wieder auf. Er erhob sich und wollte im Spiegel die Wunde sehen, aus der ihm immer wieder die Zähne herausgefallen waren. Aber alle seine Zähne waren fest, und er blutete aus keiner Zahnlücke. Er putzte sich die Zähne und verbrachte eine Viertelstunde vor dem Spiegel. Immer wieder spannte er die Lippen und ließ aus dem Mund seine tadellosen Zähne hervorschauen.
In einer der nächsten Stunden bei Dr. Buddenberg erzählte Abschaffel vom Geiz des Vaters. Darüber konnte er genausolang sprechen wie über Geldverwicklungen. Er wußte Geizgeschichten aus vielen Jahren, sogar aus seiner frühen Kindheit. Als die Oma, Vaters Mutter, gestorben war, wollte der Vater seine Kinder nicht mit zur Beerdigung nehmen, weil er das Straßenbahnfahrgeld zum Friedhof nicht ausgeben wollte. Erst ein Streit mit der Mutter – immer mußte ihm alles abgeklagt werden – stellte seinen Versorgungsanspruch wieder klar. Einmal, sagte Abschaffel, saßen wir in einer Wirtschaft, die Eltern, mein Bruder und ich; es war Sommer, und wir hatten einen Spaziergang gemacht. Meine Mutter hatte Durst bekommen, und sie hatte den Vorschlag gemacht, zum Abschluß ein Bier zu trinken. Wenn du es bezahlst, hatte der Vater gesagt, und das sagte er immer bei solchen Gelegenheiten. Meine Mutter mußte die Rechnung von ihrem Haushaltsgeld bezahlen. Bald sahen wir, wie die Kellnerinnen die fertigen Abendessen an anderer Leute Tische trugen. Mein Vater sah den Abendessen nach, und er hatte Hunger. Nach einer Weile fragte er meine Mutter: Willst du etwas essen? Zur allgemeinen Überraschung sagte sie dann: Ja. Und das hätte sie nicht tun dürfen; der Vater wurde böse und machte ihr Vorwürfe. Obwohl er sie selbst gefragt hatte. Wir haben doch zu Hause genug zu essen, was willst du denn hier? schimpfte er.
Abschaffel schwieg eine Weile und ging allein in seinen Erinnerungen umher. Heute glaube ich, begann er von neuem, daß mein Vater in Wahrheit nicht geizig gewesen ist, sondern nur enttäuscht. Furchtbar und riesig enttäuscht. Es gibt Fotos von ihm, als er etwa fünfundzwanzig Jahre alt gewesen war. Da steht er sehr elegant im Atelier eines Fotografen. Er trägt einen Stresemann, einen steifen Kragen, einen schwarzen Zylinder, an den Schuhen weiße Gamaschen und ein Stöckchen mit Knauf in den Händen. So wollte er wirklich sein, und weil er das nicht war, mußte er es werden. Aber er war nur ein kleiner Mann, er brachte es nur zu einer kleinen Wohnung und zu lebenslänglichen Sorgen, und eine lähmende Enttäuschung kam über sein Leben. Aber wie soll man leben mit einer so riesigen Enttäuschung, die sich überhaupt nicht fassen ließ. Er wandelte die Enttäuschung in Geiz um. Denn damit ließ sich von Tag zu Tag immerhin leben. Aber nicht einmal die kleine Existenz, die für ihn übriggeblieben war, ließ sich ohne Schwierigkeiten leben. Wenn wir, sagte Abschaffel seufzend, was ganz selten passierte, sonntags einmal spazierengingen, dann schlug meine Mutter vor, belegte Brote mitzunehmen, weil ein Besuch in einem Restaurant für uns eben nicht in Frage kam. Aber für belegte Brote war im stolzen Selbstgefühl meines Vaters auch kein Platz. Belegte Brote?! schrie der Vater; die Mutter, die bereit gewesen war, sich auf die ärmlichen Verhältnisse einzustellen, verstand ihn dann nicht mehr. Du kommst wieder mit deinen belegten Broten?! rief der Vater in der Wohnung herum. Er wollte jemand sein, der sonntags spazierenging wie die anderen, aber die belegten Brote in der Handtasche seiner Frau hätten ihn daran erinnert, daß er eben nicht wie alle anderen einen Sonntagsspaziergang machte. Denn die anderen saßen am Abend in einem Gartenlokal. Und bestellten, was sie wollten, und es wurde ihnen gebracht. Und da sollte er sich mit seiner Familie auf einer Parkbank verdrücken (oder wohin sonst?) und Brote auspacken? Das war eben unmöglich. Wütend über die Zumutung der Mutter machte er dann überhaupt nichts. Der Sonntag ging vorüber wie ein unendlich langsam leiser werdender Elternstreit. Die Mutter legte sich ins Bett und kam nicht mehr heraus. Der Vater setzte sich an seinen Schreibtisch und betrachtete die Sachen, die er sich für seinen nicht stattfindenden Aufstieg schon angeschafft hatte. Zum Beispiel
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