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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Abschaffel auf, sich in der Gymnastik zu genieren. Auch seine Lust, alles zu beobachten und das Beobachtete schon für sein eigenes Leben zu halten, nahm in jeder Gymnastikstunde fühlbar ab. Am Anfang der Stunde machte es ihm noch Spaß, die sächsischen Aussprachereste in Frau Hollingers Ausdruck zu bemerken. Wenn sie ein K nicht eindeutig und hart wie ein K, sondern weich und sächsisch wie ein G aussprach, nahm Abschaffel manchmal die Haltung eines blöden Schülers ein, der Unebenheiten im Verhalten des Lehrers sinnlos tadelnd feststellt: aha, eben hat sie wieder sächsisch gesprochen. Er kam sich dann selbst lächerlich vor. All das verschwand auf fast erlösende Weise schon nach einer Viertelstunde. Dann war er nur noch mit seinem Körper beschäftigt. Er schwitzte und atmete und strengte sich an. Er verfolgte die Bewegungen seines Körpers, und er wollte alles richtig machen. Er hörte auf die Anweisungen von Frau Hollinger, und es gefiel ihm, wenn seine Bewegungen mit ihren Anweisungen ohne Rest übereinstimmten. Er atmete so heftig, daß ihm das Herz bis zum Hals hochschlug, und doch versuchte er, seine Anstrengung nicht zu zeigen. Wenn er für ein paar Augenblicke ruhig stand, brach ihm aus hundert kleinen Quellen der Schweiß unter den Haaren aus. Und, rief Frau Hollinger wieder und schlug drei Töne auf dem Flügel an, auf-rich-ten und los-las-sen, die Arme beim Auf-rich-ten vor-he-ben und fal-len las-sen, pen-deln und stopp. Jetzt setzen Sie sich aufrecht, heben die Arme und schwingen Sie sie nach hinten. Und Schwung und vor und schwin-gen Sie die Ar-me aus dem Rük-ken her-aus. Jetzt heben Sie und strecken beide Arme nach oben hinten und schwingen Sie die Arme ab. Los und hoch! Und strek-ken und ab-schwin-gen, ganz ho-ch und strek-ken und wieder stopp. Nach der Gymnastik schlief er gewöhnlich in seinem Zimmer eine Stunde oder mehr tief und fest und fast immer traumlos; jedenfalls erinnerte er sich meistens an keine Träume. Eigentlich hatte er die Patientin mit dem angenehmen Schweißgeruch heute ansprechen wollen, aber er war zu kraftlos gewesen. Nach der Gymnastik hatte er kaum sprechen können, so sehr mußte er Luft durch den Körper pumpen. Mit nassen Haaren und hängendem Blick war er in sein Zimmer gegangen und hatte sich sofort auf das Bett gelegt. Nun zog er frische Wäsche an und machte sich fertig für einen kleinen Spaziergang. Obwohl er den Wald nicht mochte, verlangte er heute einen Waldspaziergang von sich. Am besten wäre es, die Patientin mit den schwarzen Haaren würde mitkommen können (nach der Gymnastik hatte sie wieder ihren langen, dunklen Rollkragenpullover angezogen; wegen dieses Pullovers nannte er die Frau bei sich nur die Wollpatientin). Vielleicht sollte ich mich eine halbe Stunde ins Foyer setzen und warten, überlegte er. Aber dieser Gedanke war ihm unangenehm. Im Foyer herrschte gewöhnlich die Atmosphäre eines Krankenzimmers am Sonntag: angereiste Angehörige saßen mit ihren Kranken herum und flüsterten. Die Patienten erzählten Geschichten über andere Patienten. Meistens versuchte Abschaffel den Gang durch das Foyer zu vermeiden. Er fuhr mit dem Fahrstuhl hinunter in das Kellergeschoß, lief dann unter dem Foyer hindurch und kam über eine Treppe direkt zum Hauptausgang. Aber er riskierte dadurch, die Wollpatientin vielleicht zu übersehen. Denn das Foyer wurde auch gern von Patienten aufgesucht, die keinen Besuch erwarteten, aber doch gern in der Nähe von Stimmen und Bewegungen waren. Die großen weinroten Ruhesessel waren beliebt. Jeder Patient, der gerade unfähig war, an irgend etwas teilzunehmen, konnte sich, indem er in einem solchen Sessel Platz nahm, vor dem Gefühl der Vereisung und der absoluten Verlorenheit schützen, das ihm allein in seinem Zimmer sicher stärker zugesetzt hätte. Manche Patienten schliefen abends sogar in diesen Sesseln ein und mußten von Stationsschwestern geweckt werden.
    Als Abschaffel in den Wald eintrat, mußte er sofort seine Abneigung gegen die Natur beruhigen. Im Nahbereich zur Klinik liefen viele Patienten herum. Die Männer trugen blaue Freizeitanzüge, gebügelte Hosen, bunte Hemden. Modische Handtaschen baumelten an ihren Handgelenken. Diese Patienten wollten aussehen wie Angestellte im Urlaub oder wenigstens wie Angestellte beim Betriebsausflug. Abschaffel ging allein, und er hatte keinen Kontakt mit diesen Patienten. Er grüßte sie zurückhaltend, das war alles. Tiefer im Wald wurde er manchmal von einem älteren

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