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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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jedenfalls eine bestimmte Regung, die für ihn lediglich unbekannt war, in etwas Angenehmes umzudeuten. Ein solcher Vorgang war eingetreten, als er bemerkte, wie er in kleinen, regelmäßigen Schlucken sein eigenes Blut verschlang. Damit war für ihn im Augenblick plötzlich wieder etwas in Ordnung. Er saugte mit dem Kehlkopf das Blut nach hinten ab und glaubte, so könne es für eine Weile bleiben. Es dauerte nicht lange, und er hatte diesen Vorgang erneut umgedeutet. Diesmal allerdings weniger freiwillig; er wurde beunruhigt, weil er nicht wußte, was mit dem von ihm geschluckten Blut geschah; ging dieses Blut seinem Körper verloren? Wenn ja, dann konnte er nicht so weitermachen. Und außerdem erinnerte er sich, schon öfter gehört zu haben, daß man an seinem eigenen Blut ersticken konnte. Und das Blut, das er schluckte, wurde nicht weniger, und Abschaffel wollte nicht ersticken. Er beschloß, das Blut nicht weiter zu schlucken; kurz bevor die Angst zu groß wurde, hörte er damit auf. Mit der frei gebliebenen Hand riß er von einem Papiertaschentuch zwei Ecken ab und rollte sie zu zwei Kugeln zusammen. Er nahm sich das klamme, vom Blut schwer gewordene Hemd vom Gesicht herunter und stopfte sich die beiden Papierkugeln in die Nasenlöcher. Er ging vor den Spiegel und sah zu, was geschah. Die Papierkugeln waren rasch durchtränkt, er riß sie heraus und stopfte die Nase voll mit neuem, frischem Papier, so fest er nur konnte. Und wirklich hielten die Papierkugeln das Blut an. Schon bei der ersten Erneuerung der Papierkugeln war der Druck des Blutes schwächer geworden. Abschaffel präparierte sich eine Reihe von Papierkugeln zurecht, die er sich in immer größer werdenden Abständen in die Nase stopfte.
    Mit vorsichtig gehaltenem Kopf, so als sei er nicht fest genug angewachsen, sondern eher provisorisch aufgesetzt, ging Abschaffel ins Bad. Er hatte das Vertrauen in seinen Körper vorübergehend verloren. Wenn der Körper sich so verhalten konnte, dann mußte er künftig genauer beobachtet werden. Abschaffel wusch sich das Gesicht. Vorsichtig fuhr er mit dem Waschlappen um die Nase herum. Er hatte einen solchen Respekt vor den unerwarteten Reaktionen seines Körpers bekommen, daß er glaubte, er müßte in Zukunft alles, was er mit ihm anstellen wollte, vorher und rechtzeitig bei einer Instanz, die er noch gar nicht kannte, anmelden. Vorsichtig ging er in das Zimmer zurück. Draußen war es dunkel geworden, und Abschaffel legte sich erschöpft auf das Bett. Er stopfte sich zwei Kissen in die Halsgegend, und seine Nase lag aufrecht nach oben gerichtet. Er atmete ruhig, und es blutete nicht mehr in ihm.
    Es mochte früher Abend sein, und im Hinterhof des Hauses, in dem Abschaffel wohnte, spielte wie beinahe jeden Abend eine Schar von Kindern. Er hörte ihren lebhaften Stimmen zu, wie ihr Echo von den Häusern gefangengehalten und undeutlich wurde in den oberen Stockwerken. Die Kinder spielten und merkten nicht, daß es Abend geworden war und daß sie schon eine Weile im Dunkeln weiterspielten. Es war Abschaffel rätselhaft, wie ihr Spiel im Dunkeln funktionierte; sie sahen sich nicht mehr, und dennoch war ihr Spiel noch so in Ordnung, als sei es Tag und hell. Abschaffel erinnerte sich, daß ihm vor kurzem bei der Betrachtung der Auslagen eines Musikgeschäftes eingefallen war, wie sehr er als Kind ein bedeutender Sänger, mindestens aber, wenn dies nicht gelänge, ein ebenso bedeutender Musiker hatte werden wollen. Es war ihm wieder eingefallen, als er eine im Vordergrund des Schaufensters gelegene Mundharmonika betrachtet hatte. Den Kopf weit zurückgelegt, die Stimmen der Kinder im Sommerdunkel hörend, versuchte er zu enträtseln, warum ihm sein kindlicher Größenwunsch heute am Beispiel des allerkleinsten Instruments, einer Mundharmonika, wieder so frisch in den Sinn gekommen war.
    Natürlich enträtselte er nichts, im Gegenteil, er vergrößerte die bestehende Unordnung der Einfälle, indem ihm etwas anderes einfiel; vor Tagen war er in einem Café gewesen und hatte in der aufgeschlagenen Speisekarte anstatt EINE PORTION EIS MIT FRÜCHTEN gelesen EINE PORTION EIS ZUM FÜRCHTEN , und eine Kleinangst war aufgetaucht und hatte ihm sogar das Eis verleiden wollen. Abschaffel öffnete die Augen, und er war froh, daß ihn nichts erschreckte. Er überprüfte die Nase, sie blutete nicht mehr. Er versuchte, den Kopf vorsichtig auf die linke Seite zu drehen; dies war seine Schlafhaltung, und wenn er erst diese Haltung

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