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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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eingenommen hatte, würde er auch schlafen können. Eine Regung des Unwillens ergriff ihn, als er sich bemühte, die Ereignisse dieses Tages zusammenzufassen, damit er sie besser begreifen könne. Er faßte sie nicht zusammen, und er begriff sie nicht.
     
    Abschaffel blieb nicht zu Hause, er ging arbeiten. Die Grippe, die rasch nachließ, verhalf ihm zu einer Zurschaustellung eines kränklichen Fürsichseins; so wollte er es haben. Alles, was an ihn herantrat, war eine Spur schwächer als sonst. Er hörte den Erzählungen der Lehrlinge zu; die Mädchen kicherten über ihren Papieren, die Jungen sahen ihnen dabei zu. Einige von ihnen hatten sich am Wochenende sicher getroffen, vielleicht kannten sie sich seit dem letzten Sonntag auch näher, und sie glaubten paarweise, ihre Existenz als angehende Angestellte sei nur ein Irrtum ihrer Jugend, der sich bald berichtigen würde.
    Die älteren Angestellten waren über das Wochenende wieder zu Kraft und Büroverlangen gekommen. Sie waren froh, wieder arbeiten zu können. Einige machten, als sie Abschaffels vergrippten Kopf sahen, lustig gemeinte Bemerkungen, über die sie selbst nicht mehr lachen mußten. DIE BESTE KRANKHEIT TAUGT NICHTS , sagte einer und verschwand gleich hinter einer Stellwand; er erzählte oft Witze und blieb dazu an den Seiten der Schreibtische stehen, und Abschaffel schämte sich für ihn. Er erzählte ganze Serien von Witzen nacheinander ohne Pause, zum Beispiel die Serie vom grünen Steinefresser. Manchmal war er auch origineller; einmal verlangte er mittags in der Kantine ein Kartoffelbrot, und Abschaffel wunderte sich über die Bösartigkeit dieses Einfalls. Brot und Kartoffeln, das war wirklich die zur Speise kombinierte Langeweile, Brot und Kartoffeln in einem, das war das Leben der Angestellten. Die meisten Angestellten lachten über die Witze, aber das Prestige des Mannes war gering. Vielleicht hatte er verzweifelt Schluß gemacht mit der ernsthaften Vorstellung, diese Arbeit sei eine wirkliche Antwort auf sein Leben, und sich eingestanden, daß sein Leben wie das Leben der anderen Angestellten ein monströser Unsinn war. Die anderen, die ihn im Sinne des Geschäfts für einen unernsten Trottel hielten, waren nur noch nicht soweit wie er. Er war es auch, der für den Inhaber und Chef des Unternehmens den Spitznamen erfunden hatte, Ajax, der weiße Wirbelwind. Der Name war zutreffend; zu jeder Stunde, bei jeder Gelegenheit, wann immer er von Mißtrauen geplagt war, durfte Ajax, der weiße Wirbelwind, in das Großraumbüro hineinlaufen und sich einen Angestellten vornehmen und ihn befragen, bis er befriedigt war. Der weiße Wirbelwind hielt den Bau dieses Büros für den Abschluß seines Lebenswerks. Oft führte er angereiste Delegationen von Geschäftsfreunden durch den Arbeitssaal und erklärte ihnen jede Leitung, jedes Blinklicht, jede Rohrpoststation, jeden Rationalisierungseffekt. ES GIBT KEINEN SCHLECHTEN CHOR, ES GIBT NUR SCHLECHTE DIRIGENTEN, sagte er gern.
    Er, der Dirigent, war außer seiner Sekretärin der einzige mit separatem Zimmer. Jeder Angestellte hatte nur zwei sichere Gelegenheiten, diese Zimmer von innen zu sehen, bei seiner Einstellung und bei seiner Kündigung. In beiden Fällen passierte er zunächst das Zimmer der Sekretärin und landete dann im Zimmer von Ajax, dem weißen Wirbelwind. Er war umgeben von drei Chefschützern: einem Prokuristen und zwei persönlichen Vertretern und Referenten, die ihre Schreibtische mit schalldämpfenden Flügeln umstellt hatten. Die drei konnten die Masse der Angestellten beobachten, von ihnen aber nicht beobachtet werden, das war ihr Privileg. Der Prokurist und die beiden Referenten waren sich aber wieder untereinander ausgeliefert, weil sie sich gegenseitig auf die Schreibtische sehen konnten. Wer von den normalen Angestellten etwas von Ajax wollte, konnte nur von einem dieser drei etwas wollen können. Umgekehrt wurde alles, was ein Angestellter gerade für das Geschäft tat, dadurch unwichtig, indem er von Ajax unterbrochen wurde. Der weiße Wirbelwind durfte auch Lehrlinge ohrfeigen. Es waren, nach seiner Art, kurze kleine Nackenschläge. Sie taten nicht weh, so meinte er es nicht, auch das sollte jeder sehen, daß der Chef nicht wirklich gewalttätig war. Ajax hatte keine Skrupel, es zu tun, die Hand zu heben, aber die Angestellten hatten Skrupel, es gesehen zu haben. Der Betrieb lief weiter, denn durch kurze kleine Nackenschläge war er nicht zu unterbrechen. Die Lehrlinge selbst

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