Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
Vom Netzwerk:
hatten ein Wort dafür gefunden, was mit ihnen geschah: Lehrlingsgrill. Jeder Vorgesetzte, und das war für sie jeder Nichtlehrling, durfte sich an sie wenden. Sie mußten fertig werden mit Tausenden von ihnen nicht gewünschten Kontakten. Wenn der Prokurist Lehrlingsgrill machte, sah es immer so aus: Der Prokurist stellte dem Lehrling eine Reihe gebrüllter Fragen: Was ist heute für ein Tag? Hast du dir darüber schon Gedanken gemacht? Der wievielte? Und was habe ich dir vor drei Tagen gesagt? Hast du das inzwischen wieder vergessen? Einige Lehrlinge legten die Hände an die Hosennaht, wenn diese Fragen kamen, andere stotterten etwas und verärgerten damit nur den Prokuristen. Die Mädchen wurden rot und hatten einen Grund, auf die Toilette zu gehen. Schlagen durfte der Prokurist nicht, obwohl es ihm niemand verboten hatte. Er hätte es wagen können, dann hätten zwei schlagen dürfen.
    Später, nach Feierabend, stolperte Abschaffel in der Innenstadt umher. Er versuchte, das Eintreffen in seiner Wohnung möglichst hinauszuschieben, obwohl er nicht wußte, was er in der Stadt machen sollte. Er schob sich durch Kaufhäuser und Fußgängerzonen und wurde nicht zufrieden dabei. Er hatte wieder das Gefühl, alles, was sein Leben ausmachte, könne nicht so bleiben. Obgleich er immer wieder Miniaturen erlebte, die ihn für Augenblicke heiter stimmten. Einmal, in einem Kaufhaus, blieb er an einem Verkaufsstand mit Schwangerschaftsbüchern stehen. Er schlug eines der Bücher auf und sah sich die Bilder an, und sie gefielen ihm. Er betrachtete die großen Köpfe der Säuglinge, wie sie an den entblößten Brüsten der Mütter lagen, und er wurde ganz gierig, die Texte unter den Bildern zu lesen. Und er las: DER KINDLICHE MUND UMFASST DEN WARZENHOF. DIE NASE DES SÄUGLINGS MUSS BEIM TRINKEN FREILIEGEN. Und plötzlich sehnte sich Abschaffel danach, eine ganz andere Sorte von Sorgen zu haben, und er wünschte sich, eine Brust und einen Säugling zu besitzen und den Säugling säugen zu können. Wie immer wurde es ihm heiß und schön, wenn er einen ganz neuen Wunsch entdeckt hatte, und wie immer wurde es ihm kalt und ernst, wenn er wenig später bemerkte, wie sinnlos und unmöglich der neue Wunsch war. War er denn irrsinnig geworden, sich eine einzelne Brust zu wünschen? Schnell stellte er das Schwangerschaftsbuch in das Regal zurück und verließ das Kaufhaus. Zum Glück vergaß er seinen Wunsch schnell, aber es blieb eine Verärgerung zurück wie immer, wenn er einen Wunsch zurückschicken mußte nach dorthin, wo er hergekommen war. Auf der Straße sah er ein junges, sich küssendes Paar, das sich hungrig in die Gesichter sah, und gleich war Abschaffel bereit, Glück für dümmlich zu halten, Küssen für schwachsinnig. Das Ineinandereindringen von Zungen und Lippen, wie lächerlich und tödlich. Zum Glück hörte er gleich darauf, wie eine alte Frau zu einer anderen alten Frau sagte: EIN GLÜCK, DASS DIE MÄNTEL SO GROSSE TASCHEN HABEN, IN DENEN MAN ALLES UNTERBRINGEN KANN. Was war denn nun das Glück? Eine Brust, die man nie hat und nie kriegt, ein zum Küssen immer bereiter Mund oder große Manteltaschen? Abschaffel ärgerte das gleichzeitige Auftreten von ganz jungen und ganz alten Leuten, und er wußte nicht, wen er mehr beschuldigen sollte, die jungen oder die alten. Die einen küßten sich, die anderen griffen sich in die Manteltaschen. Er überlegte nicht lange und ging dazu über, die Alten zu beschimpfen. Er wußte in der Nähe ein Bankhaus, dessen Eingang aus zwei Türflügeln bestand, die sich automatisch öffneten, sobald man die Gummimatte vor dem Eingang betrat. Solche automatischen Türen gab es viele, und die allermeisten funktionierten richtig. Die aber, zu der Abschaffel jetzt hinging, weil er sich mit der Dummheit alter Leute zufriedenstellen wollte, funktionierte nicht mehr ganz. Die Türflügel öffneten sich erst dann nach hinten, wenn der Besucher schon knapp vor den Türflügeln angekommen war und eigentlich nicht mehr, wenn er von den Eigenarten dieser Tür nichts wußte, mit der Automatik rechnen konnte. Abschaffel stellte sich auf der anderen Seite der Straße auf und beobachtete die Vorgänge an der Tür. Und es ereignete sich bald, was er hatte sehen wollen. Ein alter Mann betrat die Gummimatte und streckte schon den Arm nach vorn, die Glastür aufzustoßen. Er bekam die Türgriffe zu fassen, und als er mit dem Körper dicht an die Glastüren herangekommen war, sprangen die Türen nach hinten

Weitere Kostenlose Bücher