Abschaffel
Herrn, der eine leichte Dauerlaufübung machte, überholt. Die wenigen Haare streng zurückgekämmt, den Blick auf den Boden gerichtet, das Gesicht verkniffen, lief er an ihm vorbei. Abschaffel sympathisierte mit diesem älteren Einzelgänger; vermutlich war dessen Abgeschlossenheit aber noch strenger als seine eigene.
Über Nacht war Reif über die Landschaft gekommen. Die Äste und Bäume waren weiß und starr und ein wenig glitzernd. Dadurch wirkte die Natur, wenigstens in diesen Laubwaldpartien, künstlich und erdacht und konnte sich nicht so wichtig tun. Darüber war Abschaffel erleichtert. Sobald er durch einige freie Durchblicke die Berge entdeckte, war er befremdet. Diese mächtigen dunkelgrünen Schraffuren der dichtbewaldeten Berghänge schienen immer eine Antwort zu verlangen, die er niemals geben konnte. Diese Berge richteten nichts aus bei ihm. Sie waren bloß da, mit ihnen schien nichts los zu sein. Oder doch? Vielleicht war Abschaffel eine Person, die es nötig hatte, von ihrer Umgebung immerzu beschäftigt zu werden. Aber außer einer riesigen, naturhaften Angeberei, die sich mehr gegen den Himmel zu richten schien, kam nichts von diesen Bergen. Abschaffel konnte es kaum fassen, daß es Menschen gab, die mitten in diesen Bergen wohnten. Es gab einzelne Häuser, deren Schornsteine rauchten.
Und dann diese Täler! Das Wort Tal war für ihn nur eine unverständliche Ortsbezeichnung. Er wußte nicht, wo ein Tal begann, wo es aufhörte, wo Täler hinführten und wie weit sie an ihren Seiten reichten. Führte ein Tal die Berge hinauf, von denen es seitlich begrenzt war, oder endete es am Ansatz der Berge? War ein Tal nur die Fläche zwischen zwei Bergen? Und wie wurde es in seiner Länge begrenzt? Hörte es einfach dort auf, wo es nicht mehr weiterging? Und wie konnte man dann jemanden finden, von dem lediglich bekannt war, er wohnte in diesem oder jenem Tal? Mußte man dann das ganze Tal abwandern, und zwar nicht nur der Länge nach, sondern auch seitlich immer wieder hinüber und herüber zu den in Tälern immer vereinzelt stehenden Häusern? Und wieviel Zeit war nötig, um unter diesen Umständen eine in einem Tal wohnende Person zu finden? Und wenn alles so schwierig war, warum blieb dann alles so, wie es doch schon so lange war?
So mühte er sich ab, die Natur und das geringe Leben in ihr zu verstehen, und doch war er mit den Mängelrügen, die er nur dachte, am Ende nicht zufrieden. Immer wieder sah er hinüber zu den dichtstehenden Tannen, und sobald sein Gemüt anfangen wollte, wieder zu klagen, wies er es zurecht. Denn soviel war ihm immerhin als Verdacht geläufig: Es klagte nicht die Natur, sondern nur er. Es konnte die Möglichkeit bestehen, daß alles, was er empfand und dachte, mit dem, was er sah, überhaupt nichts zu tun hatte. Das war ein beleidigender Verdacht. Es konnte sein, daß die Berge nur am treffendsten seine Leere abspiegelten und sie ihm in aller Schärfe zurückgaben.
In langen Abständen dröhnte in nicht allzu großer Entfernung eine einzelne Motorsäge. Manchmal waren Geräuschreste des Verkehrs auf der Fernstraße zu hören. Es war nicht zu ändern: Er bekam wieder das Gefühl, in der Natur zu scheitern. Denn natürlich traute er sich nicht, die Umgebung einfach zu beschuldigen. (Ihr Tannenbäume! Ihr öden Waldwege! Ihr langweiligen Wiesenabhänge, rollt euch zusammen und verschwindet!) Je länger er langsam hier umherlief, desto mehr glaubte er, eine Antwort schuldig zu sein. Er mußte zweimal nacheinander niesen und ärgerte sich darüber. Hatte er sich erkältet? Er band den Wollschal fester zusammen. Mit dem sicheren Gefühl, den Mißerfolg in der Natur nicht mehr abwenden zu können, kehrte er um. Es war, als hätte er ein ihm unbekanntes Zimmer betreten, und im Augenblick des Eintritts hätte er bemerkt, daß das Zimmer (die Natur) zu unaufgeräumt und unklar für ihn war. Er kehrte sofort um, aber im Augenblick des Umkehrens war der Bewohner des Zimmers erschienen (sein schlechtes Gewissen) und hatte ihn aufgefordert, die Unordnung nicht wichtig zu nehmen und trotzdem in das Zimmer zugehen. Natürlich hatte der Zimmerbewohner damit die Unstimmigkeiten des Zimmers und die des Besuchers nur noch verstärkt, und so blieb dem Besucher am Ende, wie Abschaffel in der Natur, nur die Flucht übrig.
Und wie jeder Fliehende, so überlegte er schon auf der Flucht, wie er möglichst rasch eine Tätigkeit finden konnte, die ihn wieder in seine Gewißheiten zurückversetzte.
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