Abschaffel
Und es fiel ihm etwas Phantastisches ein, was er schon seit zehn Jahren immer wieder tun mußte: Er wollte vier schmutzige Hemden, die in einem Plastikbeutel in seinem Kleiderschrank lagen, in die chemische Reinigung bringen. Das war etwas Solides, Übersichtliches und Notwendiges. Er war bisher noch nicht in der einzigen chemischen Reinigung gewesen, die es in Sattlach gab, aber er wußte, wo sie war. Er ging eilig in die Klinik zurück. Zu Hause in Frankfurt war an jedem Hemd, das gereinigt und gebügelt aus der Reinigung zurückkam, ein Papierstreifen angebracht: IN JEDER SITUATION EIN FRISCHES OBERHEMD . Dieser Spruch fiel ihm jetzt ein, und mitten im fremden Wald mußte er lachen. In einer anderen Reinigung, zu der er seine Hemden seltener brachte, hieß der Spruch auf den Papierstreifen: EIN OBERHEMD, DAS FREUDE MACHT! Dieser Satz gefiel ihm nicht so gut wie der andere.
Sogar die Plastiktüte, in die er die vier schmutzigen Hemden hineingesteckt hatte, hatte er von zu Hause mitgebracht. Die Tüte erinnerte ihn an städtische Lebensformen, und das Tragegefühl in der Hand war ihm so vertraut wie die Hand eines Menschen. Es störte ihn nur der Aufdruck der Tüte; das Wichtigste war die Beruhigung, überhaupt eine heimische Plastiktüte in der Hand zu haben. Er benutzte, um das Dorfinnere zu erreichen, einen Nebenweg, der hinter den Gärten einiger neuerer Ein- und Zwei-Familien-Häuser entlangführte. Zwischen den Häusern und dem Weg lagen schmale, langgestreckte Gärten mit Bänken, Lauben und Fischteichen. In diesen neuen Häusern wohnten wahrscheinlich die eleganten Mütter, die Abschaffel auf ihren flüchtigen Einkaufswegen schon gesehen hatte. Auf der an der Vorderseite vorbeiführenden Straße spielten gutgekleidete Kinder neben den sorgfältig geparkten Kleinwagen. Die kleinen Autos gehörten den Frauen, die großen (von denen zu dieser Zeit nur wenige zu sehen waren) den Männern. Auf der unbebauten rechten Seite des Weges endeten Obstgärten und Felder. Der Blick reichte von hier bis zu den Ansätzen der Berge, die Abschaffel nun wieder ohne Affekte betrachten konnte. Erst am Ende des Weges waren auf der rechten Seite von den Feldern zwei große Tennisplätze ausgegrenzt. Wahrscheinlich hatten die neu nach Sattlach zugezogenen Familien diese Tennisanlage errichten lassen. Abschaffel überlegte, ob es geschehen konnte, daß im Sommer weißgekleidete Tennisspieler auf ihren roten Plätzen umhersprangen, und nur wenige Meter neben ihnen verrichteten schweigsame Bauern ihre alte Arbeit. Da entdeckte Abschaffel am Boden der Seiteneinzäunung, ein wenig versteckt in einer dürren Hecke, die abgesprungene Hälfte eines Tennisballs. Er hob die Ballschale auf. Sie war verdreckt, aber er behielt sie in der Hand. Er erinnerte sich, daß er sich als Kind oft gefragt hatte, wie ein Tennisball von innen aussieht. Er erinnerte sich mit merkwürdiger Genauigkeit an dieses kindliche Rätsel, und nun endlich war es gelöst. Dieser behaarte, pralle, harte und doch nachgiebige Ball hatte innen eine fünf bis sechs Millimeter starke Gummiwand, auf deren Außenseite die pelzig behaarte Hülle aufgeklebt war. Er wischte den gröbsten Dreck von der Ballschale herunter und steckte sie in die Manteltasche. Er wollte sie am Abend in seinem Zimmer waschen und trocknen, so daß die Behaarung wieder frisch und hell werden mußte. Am Zaun des nächsten Tennisplatzes fand er sogar einen völlig intakten Tennisball. Wahrscheinlich hatte ihn ein Spieler über den Zaun geschlagen, und weil es bei den Angehörigen dieser neu zugezogenen Familien nicht üblich war, etwas Verlorenes wieder zu suchen, sondern gleich das nächste Neue zu nehmen, war der Ball außerhalb des Platzes liegengeblieben. Abschaffel säuberte ihn oberflächlich und steckte ihn in die andere Manteltasche. Halbwegs heiter betrat er mit seiner Plastiktüte die Hauptstraße von Sattlach. Im Schaufenster eines Uhrmachers las er auf einem langen, schmalen Pappschild, das auf dem grünen Samtboden des Schaufensters auslag, nacheinander die Worte UHREN BRILLEN BESTECKE TRAURINGE . Er las die Zeile zweimal, und beim letzten Wort blieb er hängen. Was bedeutete das Wort TRAURINGE? Sollte es heißen, daß zwei Personen, die einander geheiratet hatten, künftig auch einander trauen wollten? Aber eigentlich war das Wort Trauringe kaum noch gebräuchlich; wahrscheinlich stieß er sich deswegen so an ihm. Er ging weiter, und es beruhigte ihn, ein einzelnes veraltetes Wort gelesen
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