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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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festigte sich das Gefühl der Beruhigung.
    Er hatte genug, und er wollte zurück in die Klinik. Er nahm den kürzesten Weg, der von hier aus am Rande eines Rebhügels vorbeiführte. Vor einem großen Bauernhaus spielten zwei kleine Kinder, die aufsahen, als er vorüberging. Weil sich Abschaffel wieder besser fühlte und er die Besserung, wie er glaubte, den Tennisbällen verdankte, entschloß er sich, den beiden Kindern den ganzen Ball zu schenken. Den halben, für die Kinder unbrauchbaren, wollte er für sich behalten, weil er seiner Bedeutung noch eine Weile nachhängen wollte. Er warf den Kindern den Tennisball zu. Verdutzt fingen sie ihn auf und schauten zu ihm hin. Durch schnelles Weitergehen machte er deutlich, daß er die Rückgabe des Balls nicht erwartete. Er fühlte sich immer noch gut, und er begann sich vorzustellen, wie er bei diesen beiden Kindern nun als Ballverteiler galt. Wenn die Kinder ihn wiedersahen, würden sie sich erinnern, und Abschaffel wäre eindeutig ein guter Mann. Er stellte sich sogar vor, welche Unterhaltung der Vorfall in der Familie der Kinder hervorrief. Heute ist uns ein Ball geschenkt worden, sagten die Kinder, und die Mutter erschrak vermutlich. Ein Ball? Was für ein Ball? Ein Tennisball. Einfach so? Ja, einen Ball? hier ist er, sagten die Kinder. Wer hat euch diesen Ball geschenkt? Ein Mann. Ein Mann? Ja, ein Mann. Was für ein Mann? Wir kennen ihn nicht, wir haben ihn nie zuvor gesehen. Wie ging denn das vor sich? fragte die Mutter beunruhigt. Habt ihr gebettelt? Nein, nein, bestimmt nicht. Hat der Mann etwas dazu gesagt? Nein, nein, er lief einfach weiter. Wollte er etwas von euch? Nein, nichts, kein Wort hat er gesagt. Tief verlor sich Abschaffel in die Vorstellung dieses Gesprächs. Am Ende war er überzeugt, daß die Mutter die Ballschenkung nicht verstand. Wahrscheinlich glaubte sie, irgend etwas an dieser Geschichte sei nicht wahr oder anders gewesen, und die Kinder waren nicht in der Lage, ihr Mißtrauen auszuräumen. Sie mußte sich sorgen, denn Männer, die Kindern einen Ball schenkten, galten als gefährlich. Hoffentlich sorgte sich die Mutter nicht zu sehr! Und hoffentlich nahm sie den Kindern den Ball nicht wieder ab: aus lauter Ratlosigkeit, weil sie die vermeintliche Wahrheit nicht herausfinden konnte.
    Zwei Tage später, als er frühmorgens aus dem Fenster schaute, war Schnee gefallen. Es war ein Anblick, den er kaum für möglich gehalten hatte. Es war noch fast dunkel. All die Umrisse der Häuser, der Scheunen, der Anbauten und Geräteschuppen hatten sich im weichen Schnee nahezu aufgelöst. Sie waren nur noch erinnerbar, weil das Gedächtnis auch die gewöhnliche, schneefreie Gegenständlichkeit aufbewahrt hatte. Abschaffel zog sich einen Stuhl an das Fenster und sah fast eine Stunde lang in die Schneelandschaft. Es war eine einzige große milchige Bläue, die sich unendlich langsam aufhellte. Ringsum war Stille. Es war erst sieben Uhr. Abschaffel war nur deswegen so früh aufgestanden, weil es ihm bisher nicht gelungen war, seinen gewöhnlichen Büro- und Arbeitsrhythmus abzulegen. Auch in der Klinik wachte er täglich, wie zu Hause, kurz vor sieben Uhr auf und horchte, still im Bett liegend, eine Weile in seine Umgebung, ehe er aufstand. Zu Hause brauchte er die Stunde zwischen sieben und acht Uhr für Anziehen, Frühstück und Arbeitsweg. Hier blieb die Stunde eine tote Zeit, die er hätte mit Schlaf ausfüllen können, wenn er schlafen gekonnt hätte. Noch nicht einmal seine Armbanduhr legte er nachts ab. Denn gelegentlich wachte er nachts auf, und das Bedürfnis, die Uhrzeit sofort zu wissen, ohne die Uhr erst lange suchen zu müssen, war in der Klinik nicht schwächer geworden. Benommen sah er aus dem Fenster. Einige wenige Lichter waren inzwischen eingeschaltet worden, und Abschaffel erinnerte sich an einen Lieblingssatz seines Vaters: Je ärmer die Leute, desto früher brennt morgens das Licht. An einigen Tannen, die nahe der Klinik standen, war zu sehen, daß mindestens zehn, vielleicht sogar fünfzehn Zentimeter Schnee gefallen waren; die Tannen waren dick und schwer geworden. Solche verschneiten Tannen kannte er eigentlich nur von den Winterbildern der EDEKA-Kalender, die früher von den Lebensmittelhändlern zu Weihnachten und Neujahr an Hausfrauen verteilt wurden. In der Küche der Mutter hing immer ein solcher Kalender. In den Monaten Dezember, Januar und Februar gab es nur Schneebilder mit Tannen, Skifahrern und lustigen Rodelpartien. Manchmal

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