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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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zu haben. In einem bestimmten Schaufenster von Sattlach lebte das Wort TRAURINGE noch, aber für die allermeisten Menschen war es schon lange gestorben. Er überlegte, ob er dem Uhrmacher Bescheid sagen sollte, daß in seinem Schaufenster ein sterbendes Wort lag, und während er ging, probte er schon die ersten Sätze aus: Wissen Sie eigentlich, daß in Ihrem Schaufenster ein Wort verwest, ein altes Wort, das für Sie vielleicht noch gilt, äh, ja, da vergaß er den ganzen Trauringkomplex, denn inzwischen stand er vor dem Schaufenster eines kleinen Lebensmittelgeschäfts; es war überladen mit Lebensmitteln, und im Vordergrund, genau hinter der Scheibe, waren sechs Flaschen Wein genau nebeneinander aufgestellt. Und hinter den Weinflaschen lag ein Hasenbraten. Die Weinflaschen müssen in den Hintergrund, überlegte Abschaffel, der Hasenbraten muß als Blickfang nach vorn, dann müßte niemand mehr angestrengt über die Flaschen hinwegsehen, um den Hasenbraten überhaupt noch entdecken zu können. In einer Art, die er nicht wirklich so meinte, richtete er wieder, wie schon an den Uhrmacher, eine kleine Ansprache an den Lebensmittelhändler, und trödelte weiter. Die Plastiktüte, die ihm vor mehr als einer halben Stunde so gefallen hatte, störte ihn inzwischen. Das Tragegefühl hatte sich umgewandelt. Die Plastiktüte kam ihm nicht mehr großstädtisch, sondern bloß noch altmachend vor. Er fühlte sich wie ein älterer Mensch, der sich nicht als komplett erfährt, wenn er nicht eine alte Handtasche oder Tüte mit sich herumschleppt. Die Reinigung war der hellste Laden in Sattlach. Mehrere doppelte Neonleuchten knallten das Licht noch ansehnlich weit auf die Straße hinaus. Hinter der Theke stand eine Frau, von der sich Abschaffel sofort angezogen fühlte. Sie war etwa dreißig Jahre alt und trug eine verschlissene Nylon-Kutte, die ihre Arme frei ließ. In den Räumen war es stickig und heiß, weil im hinteren Teil des Geschäfts auch eine normale Wäscherei untergebracht war. Der Körper der Frau bewegte sich nur matt und langsam. Abschaffel zog seine Hemden aus der Tüte und legte sie auf die Theke. Die Frau nahm einen kleinen Auftragsblock und schrieb einen Zettel aus. Während sie schrieb, betrachtete er die nassen und schwarzen Achselhaare der Frau. Unter ihren Achselhöhlen hatte sich Schweiß gebildet, der auf ihrer Kutte gelbgraue Placken hinterlassen hatte. Unter der Kutte trug sie einen Unterrock, und in der Tiefe des Ausschnitts sah Abschaffel den Ansatz einer kleinen Brust. Er schämte sich. Ein blödsinniges Verlangen schlug ihm fast bis an den Hals. Die Frau schien zu fühlen, daß er ihr in den Ausschnitt sah, aber sie richtete sich nicht auf. Wahrscheinlich gehörte sie zu den vielen Frauen, die aus Hoffnungslosigkeit langsam nachlässig wurden, weil sie sich von dieser körperlichen Frechheit einen letzten Vorteil versprachen. Abschaffel wollte flüchten, weil er ein durchdringendes Gefühl davon hatte, wie unangebracht und peinlich sein Verlangen war. Sie übergab ihm den Zettel. Endlich hatte sie sich aufgerichtet. Er sah ihr leeres, regungsloses Gesicht, das durch das helle Licht der Neonröhren eine leblose Färbung angenommen hatte. Einige Augenblicke lang überlegte er, ob er heute bei Geschäftsschluß auf sie warten sollte. Aber vielleicht war sie dann irgendwie zurechtgemacht und trug eine weiße Bluse und einen Faltenrock, und daran war er nicht interessiert. Er wollte sie in ihrer verdampften und fleckigen Kutte haben, er wollte, ohne zu wissen warum, ihre junge Verbrauchtheit haben. Plötzlich hatte er den Einfall, daß der Grund seines Verlangens nur der Anblick ihrer Leere war, in der sich seine eigene Leere wunderbar spiegelte. Er nahm den Zettel und war so verwirrt, daß er nicht wußte, in welche Richtung er gehen sollte. Es half ihm wieder ein kleines Schaufenster. Es war die Auslage eines Schuhgeschäfts, in die er starr hineinblickte. Es gab kaum einen leeren Fleck in diesem Schaufenster. Auf eng stehenden Regalen waren die Schuhe neben- und übereinander angeordnet wie herabstürzende Fische, auf jeder Schuhkappe ein weißes Preisschildchen. Sollte er sich ein Paar Schuhe kaufen? Ein solcher Kauf würde ihn zwingen, endlich an etwas anderes zu denken. Aber er brauchte keine neuen Schuhe. Endlich, als er die Hände in die Taschen steckte und links den halben, rechts den ganzen Tennisball spürte, fand er aus seiner Verwirrung heraus. Er spielte mit den Gegenständen, und rasch

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