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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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kleine grüne Schlangen zogen sie sich über das Rund der Waden hinweg. Natürlich stellte er sich vor, daß er entweder die Krampfadernwaden des Vaters oder die ewig offenen Fesseln der Mutter erben würde. Sonderbarerweise erschrak er noch immer nicht besonders darüber. Er setzte sich auf den Bettrand, schlug das Krampfadernbein hoch (wie damals die Mutter), zog die Hose zurück und sah die Veränderung an. Er fuhr mit der Hand weich über das Bein und erkannte reglos an, daß er in Zukunft ein Mann mit einer Krampfader war. Danach zog er den Mantel an und verließ das Zimmer.
    Im Gasthof Adler war dicht hinter dem Eingang ein Holztisch aufgestellt. Hinter dem Tisch saß eine stark geschminkte Frau, die vielleicht eine der Schauspielerinnen war. Abschaffel zahlte 2,50 Mark Eintritt und ließ sich eine Karte geben. In der Gaststube und im Flur standen viele Mütter herum und beruhigten ihre Kinder. Die Vorstellung fand im Obergeschoß statt. Viele Kinder sprangen und liefen umher und versprachen einander, sich gegenseitig vorn in der ersten Reihe Plätze freizuhalten. Einige fielen sogar hin und heulten. Bis zum Beginn der Vorstellung fehlten noch etwa fünfzehn Minuten. Abschaffel stieg die Treppe zum Obergeschoß hoch und sah in den Saal hinein. Der Saal war vollgestellt mit querstehenden Holzbänken, von denen mehr als die Hälfte mit unruhig wippenden Kindern und Müttern schon besetzt war. Am vorderen Ende des Saals war eine kleine Bühne mit Vorhang. Zwei Scheinwerfer strahlten den fleckigen roten Vorhang an. Die Fenster des Saals waren mit schwarzen Tüchern verhängt. Die meisten Kinder sahen abwechselnd nach vorn und wieder zurück zur Tür. Einige rannten sogar ständig hin und wieder zurück. Über dieses Bild, das sich Abschaffel bot, war er enttäuscht. Er überlegte, ob er seinen Mantel wirklich ausziehen und bleiben oder ob er nicht sofort wieder gehen sollte. Die Kinder störten ihn. Er suchte Zerstreuung und Ruhe vor sich selber: und jetzt das. Hatte er angenommen, die Vorstellung werde für ihn allein und in vollkommener Annehmlichkeit stattfinden? Er kam nicht dazu, die Anteile seiner Erwartung genauer auseinanderzunehmen, weil er von seinem Widerwillen, noch länger hier zu sein, völlig überschwemmt wurde. Rasch verließ er den Saal und ging die Treppe hinunter. Überall wimmelte es von Kindern. Beinahe stieß er eines um, als er gar zu rasch an die frische Luft wollte.
    Draußen glaubte er, eigentlich nichts anderes gewollt zu haben, als die Vorstellung kurz vor Beginn wieder zu verlassen. Er sah einen Mann mit Schäferhund, und weil es sonst nichts zum Anschauen gab, lief er langsam an dem Mann vorbei und beobachtete dabei den Schäferhund. Besonders lange schaute er auf die fleischigen Pfoten des Hundes mit den schwarzen Krallen vorne dran. Er hatte ein unlustiges Gefühl, weil er nicht sofort wieder in die Klinik zurückwollte.
    Er hatte damit gerechnet, mindestens zwei Stunden im Gasthof Adler zu verbringen. Nun trödelte er nur umher und sah in Schaufenster hinein, in die er schon oft hineingeschaut hatte. Im kleinen Fenster des Schuhgeschäfts entdeckte er ein Paar Schuhspanner, die ihn sofort interessierten. Tatsächlich, richtige Schuhspanner, wie sie zu Hause der Vater heute noch verwendete. Ein Schuhspanner bestand aus zwei Holzteilen, die mit einer starken Stahlfeder miteinander verbunden waren. Wenn der Vater abends nach Hause kam, zog er seine Schuhe aus und klemmte die Spanner hinein. Er verlangte auch von seinen Kindern, daß sie ihre Schuhe mit solchen plumpen Geräten spannten, aber die Kinder hielten sich nicht an seine Aufforderungen. Und als der Vater bemerkte, daß er keinen Erfolg hatte, schimpfte er gegen die allgemeine Unordnung und Schlamperei, die in seiner Familie um sich griff. Nein, das war alles gar nicht wahr. Abschaffel wandte sich ab vom Schaufenster des Schuhgeschäfts und gestand sich ein, daß er dem Vater soeben etwas angedichtet hatte. Es stimmte, der Vater hatte Schuhspanner, und das Kind Abschaffel konnte die Schuhspanner nicht leiden, weil sie ihm altmodisch und verrückt vorkamen und weil sie ihm die Gelegenheit boten, den Vater innerlich zu verunglimpfen. Aber niemals hatte der Vater von irgend jemand verlangt, Schuhspanner zu verwenden. Aber wie war es möglich, daß ihm Abschaffel heute so etwas unterschob und beinahe daran geglaubt hätte? Er ahnte dafür keine Erklärung. Verwirrt ging er zurück zur Klinik und schämte sich. Er fühlte sich wie

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