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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Verlauf des Verkehrs, nur sein Ende. Die Frau lag bewegungslos im Bett, fast wie eine Tote. Ihre alten Glieder und ihr schlaffer Leib ekelten ihn. Ihre Augen waren geschlossen. Auf dem linken geschlossenen Auge ruhte eine Lache Samen. Dies hatte er vor ungefähr einer Woche geträumt, und es war ihm nichts dazu eingefallen, aber heute meinte er, die alte Frau sei vielleicht Margot gewesen. Aber warum war sie im Traum eine alte Frau? Vielleicht bedeutete es, daß seine letzten schönen Erfahrungen mit einem anderen Menschen schon ziemlich alt waren, und der Traum wollte vielleicht nichts anderes, als ihn dazu zu ermahnen, endlich etwas Neues für sein Glück zu unternehmen. Abschaffel seifte sich am Waschbecken ein und führte den Rasierapparat vorsichtig um sein Kinn herum, wie er das seit fünfzehn Jahren gewohnt war. Wie üblich entstanden trotz umsichtiger Handhabung des Rasierapparates die gewöhnlichen kleinen Rasierschnitte in seiner Haut.
    Abschaffel betrachtete sein blutfleckiges Kinn lange im Spiegel, und nach einer Weile kam er sich wie schwerverletzt und sterbend vor. Aber diesmal war das Sterbegefühl nur ein Spiel und von vornherein als solches für ihn erkennbar. Mitten in sein schweigendes Betrachten hinein ließ er einen Furz, der leider zu laut ausfiel, so daß er kichern mußte und das Sterbespiel nicht weiterspielen konnte. Die einzige Art, Winde entweichen zu lassen (so nannten es die vornehmen Vorstadtschwestern der Mutter), die ihm wirklich gefiel, war das Furzen während des Badens in der Badewanne. Dazu versenkte er den Körper im Wasser, bis nur noch der Kopf und die beiden Kniekuppen über dem Wasserspiegel heraussahen. In dieser Stellung verharrte er, bis sich das Badewasser nicht mehr bewegte. Und wenn er in dieser Unbewegtheit des Wassers den Furz entweichen ließ, entstand ein mildes Geblubber, das sich jedesmal anhörte wie das letzte Geräusch, das er eines Tages von sich geben würde, wenn er endlich genug hatte von allem. In diesem Spiel war es gleichgültig, daß es ein Furz war, der das Geräusch und die Bewegungen im Wasser verursachte. Die Hauptsache war die leise Endgültigkeit dieser Äußerung. So blieb er, wenn er dieses Spiel spielte, lange in der Badewanne liegen, bis das Wasser langsam erkaltete und er zu frieren begann. Und er stellte sich vor, wie nach einiger Zeit jemand das Badezimmer betrat und ihn entdeckte. Der entsetzte Besucher wich rasch zurück und alarmierte Abschaffels Mutter, damit sie ihren toten Sohn abholen kam.
    Nach der Rasur fühlte er sich gut. Die meisten Schnitte waren inzwischen wieder eingetrocknet. Nur zwei oder drei bluteten immer noch. Er nahm das rotgeblümte Handtuch und versuchte, die Schnitte mit den tiefroten Teilen des Handtuchs abzustillen. Das Blut im Handtuch fiel nicht auf, weil es im Rot der Blumen unterging. Als er sich die Haare wusch (er wollte an diesem Morgen zum Friseur), fiel ihm überraschend die Firma ein. Er dachte kurz an Hornung, an Fräulein Schindler, an Frau Schönböck, an Ajax, an Frau Morlock. Anstatt des Worts Betrieb dachte er einmal das Wort Betrüb, aber es fiel ihm nicht auf. Das Haarewaschen und der Umgang mit dem Shampoon gefiel ihm gut. Er hörte es gern, wenn die kleinen Bläschen des Shampoons auf dem Kopf platzten und zergingen. Dieses Kribbeln und Schmatzen, wenn es rings um den Kopf zu spüren war, verschaffte ihm wieder die Einbildung, über seinem Kopf sei ein riesiges weibliches Geschlecht ausgebreitet, ein feuchter Hut aus Wärme und Zärtlichkeit, den er eigentlich gar nicht mehr absetzen wollte.
    Eineinhalb Stunden später war er auf dem Weg in das Dorf. Es gefiel ihm, im frischen Schnee umherzugehen. Im Schnee konnte jeder gehende Mensch angenehm auf sich selbst aufmerksam gemacht werden. Eine Weile hörte Abschaffel seinen knirschenden Schritten zu, aber dann rückten wieder diese kleinen Häuschen von Sattlach in seinen Blick. Wie eintönig und entwicklungslos hockten diese Häuser nahe am Erdboden herum!
    Abschaffel empfand Lust, das ganze Dorf zu bestrafen. Wie gleichgültig war es dem Dorfleben, welche Zeit herrschte und was mit den einzelnen Menschen vor sich ging. Vielleicht war der dichte Schneebefall schon eine Strafe, zugeteilt vom Himmel wegen erwiesener Nachlässigkeit, eine Strafe noch dazu, die von den Sattlachern nicht als solche erkannt wurde. Sie stapften stumm einher und wußten nicht, daß sie über Nacht bestraft worden waren. Tatsächlich hatte der Schnee das ganze Dorf wie zu

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