Abschaffel
einer einzigen Nebensächlichkeit zusammengeschneit, als brauchte es in Zukunft nicht mehr bemerkt zu werden. Abschaffel verspürte Lust, einzelne Bewohner von Sattlach auf der Straße anzuhalten und ihnen den Ernst ihrer Lage klarzumachen. Denn sicher war die Schneestrafe noch lange nicht ausreichend. Er überlegte, was zu tun sei, um das ganze Dorf aus seiner Gleichgültigkeit und Unwissenheit herauszureißen, und er kam auf die Idee, daß es das beste wäre, wenn alle Sattlacher einen Sonderzug bestiegen und für ein paar Tage ihr Dorf verließen. Abschaffel würde sie in Frankfurt auf dem Hauptbahnhof empfangen und ihnen dies und jenes zeigen. Zum Beispiel, wie es auf einem frischen neuen U-Bahnhof aussah. Ein neueröffneter U-Bahnhof roch in den ersten vierzehn Tagen nach Stahl, Licht, Hartgummi und elektrischen Leitungen, durch die erstmals der Strom hindurchschoß. Der Geruch, der durch diese Materialhaftigkeit entstand, war so stark und streng, daß Abschaffel schon manchmal geglaubt hatte, in solchen neuen U-Bahnhöfen käme die Welt noch einmal neu auf die Welt, diesmal allerdings gleich frisch und perfekt und neu. Diesen scharfen Geruch behielt ein neuer U-Bahnhof allerdings nur die ersten drei bis vier Wochen bei; danach nahm er den Geruch der Menschen an, die in ihm umherliefen. In einen solchen Bahnhof wollte er alle Sattlacher einmal hineinführen, damit sie sahen, wie es anderswo aussah. Und wenn sie einmal einer U-Bahn nachsahen, wie sie kreischend in einem dunklen, nach Strom und Wasser riechenden Schacht verschwand, dann würden sie vielleicht auch auf die Idee kommen, wie beleidigend die Ahnungslosigkeit war, in der ihr Dorf verharrte.
Abschaffel war schon in die Nähe des Friseurladens gekommen und phantasierte immer noch über die Zwangsverschickung der Sattlacher Einwohner. Bis zuletzt bemerkte er nicht, daß er lediglich einem Anfall von Heimweh zum Opfer gefallen war. Den schmerzenden Reiz in der Kehle, den das Heimweh verursachte, hielt er für ein Anzeichen von Wut, die seine Strafphantasien noch ein weiteres Mal ins Recht setzte. Erst im Friseurgeschäft gelang es ihm, auf andere Gedanken zu kommen und sein Heimweh zu vergessen. Obwohl es in diesem Friseurladen so still war, daß er im ersten Augenblick sofort umkehren wollte. Es war, als gebe es gar keine Wände zwischen draußen und drinnen, denn sowohl außen wie innen war es gleichermaßen lautlos. Erst als er seinen Mantel ablegte und sich auf einem Frisierstuhl niederließ, beruhigte er sich an den Geräuschen, die er selbst produzierte. In dem Laden gab es vier nebeneinanderstehende, verchromte Stahlsessel, von denen zwei leer waren. Ganz rechts saß ein alter Mann, der von einem jungen, klein gebliebenen Gesellen bedient wurde. Als Abschaffel saß, trat aus einer Schiebetür ein älterer, hagerer Friseur in einem weißen Kittel hervor, den Abschaffel für den Inhaber des Geschäfts hielt. Er bat ihn, die Brille abzunehmen, und Abschaffel folgte, auch wenn er sich dadurch unbehaglich fühlte. Der Friseur fragte, ob er die Haare naß machen dürfe. Naß? fragte Abschaffel ungläubig und leise zurück. Sonst sieht man jeden Schnitt, sagte der Friseur. Eine solche Behauptung hatte Abschaffel niemals zuvor gehört. Seine Brille hatte er abgenommen, aber die Haare sollten trocken bleiben. Bitte nicht, sagte Abschaffel. Wie Sie wünschen, sagte der Friseur und schien ein wenig beleidigt zu sein, weil ein Kunde sich über seine Empfehlung hinweggesetzt hatte. Er sagte nichts mehr und schnitt die trockenen Haare. Abschaffel ging dazu über, die Inneneinrichtung des Ladens zu betrachten. Friseurgeschäfte hatten ihm schon in der Kindheit gefallen, und sie gefielen ihm heute noch. Er betrachtete Fläschchen, halbleere Ampullen, Papierrollen, abgelegte Scheren und seine eigenen Haarbündel, die sich auf dem weißen Tuch sammelten, das der Friseur um seinen Oberkörper geschlagen hatte. Das Anschauen der Gegenstände beruhigte ihn mehr und mehr. Die rechts und links vom Hauptspiegel aufgeklappten Seitenspiegel vervielfachten die Bewegungen des Friseurs in den Raum hinein. Der alte Mann auf dem Stuhl ganz rechts verfolgte die Vorgänge an seinem Kopf mit beinahe grimmigen Blicken. Offenbar war seine Frisur bald fertig. Manchmal zog er den Kopf ein wenig zurück und betrachtete sich mit zugekniffenen Augen. Der Mann war so alt wie häßlich, und die Frisur, die er sich machen ließ, steigerte seine Häßlichkeit in eine Unbarmherzigkeit hinein.
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