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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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ein alter, mieser Verleumder, der Spaß daran hatte, jemanden schlechter zu machen, als er war.
    Links vom Eingang der Klinik, auf dem Ärzteparkplatz, sah Abschaffel Dr. Buddenberg aus seinem Auto steigen. Abschaffel zögerte, weil er sich davor scheute, mit dem Analytiker zusammenzutreffen; er wartete und hielt sich vage in der Grünanlage auf, weil er erst weitergehen wollte, wenn Dr. Buddenberg verschwunden war. Dr. Buddenberg verschloß ernst und sorgfältig den Wagen und verschwand in der Klinik. Wenig später sah Abschaffel in den leeren Wagen des Arztes hinein und entdeckte, daß rechts hinten ein Kindersitz montiert war. Und in diesem Augenblick erkannte Abschaffel, daß er sich über Dr. Buddenberg eine Menge falscher Gedanken gemacht hatte. Die ganze Zeit über hatte er angenommen, daß der Analytiker wahrscheinlich so ähnlich lebte wie er selbst. Es gab ein wenig außerhalb von Sattlach ein paar fleckige Wohnblocks mit kleinen Wohnungen und Balkons. In einem dieser Blocks hatte Abschaffel in seiner Phantasie Dr. Buddenberg ein Appartement zugewiesen. In der Gleichsetzung seines Lebens mit dem Leben von Dr. Buddenberg war er sogar so weit gegangen, dem Analytiker weitgehend dieselbe Wohn- und Lebensausrüstung anzuphantasieren, wie er sie selbst hatte. Wahrscheinlich besaß Dr. Buddenberg zwei Hosen, höchstens drei, sieben oder acht Hemden und Unterwäsche für sechs oder sieben Wochen. Und wahrscheinlich saß er am Abend vor dem Fernsehapparat und trank Bier, bis er müde war. Leider aber stimmte das alles wahrscheinlich nicht, und davon war Abschaffel persönlich beleidigt. Dr. Buddenberg war Vater, er hatte ein Kind, der Sitz im Auto war ein Beweis. Und wenn er ein Kind hatte, hatte er sicher auch eine Frau, und wenn er eine Frau hatte, mit der er sogar Kinder machte, wohnte er sicher mit dieser Frau in einer Wohnung zusammen. Und weil das so war, lebte er sicher nicht in einem kleinen Appartement, sondern in einer großen Drei- oder Vier-Zimmer-Wohnung. Und deswegen wohnte er nicht in diesen Blocks, sondern in einem dieser Häuser bei den Tennisplätzen, und das war eigentlich zuviel für Abschaffel. Seinem Gefühl nach wohnten in diesen sauberen Häuschen nur verblödete Abteilungsleiter mit ihren Schnuckiputzifrauen, die ihre Stereo-Anlagen ihren Freunden vorführten und schicke Wochenendreisen machten. Noch immer stand Abschaffel in der Nähe des Parkplatzes und hatte damit zu tun, sein altes Bild von Dr. Buddenberg zu zersetzen und das neue Bild nicht gut zu finden. Er vermutete nun sogar, daß Dr. Buddenberg, wenn er wirklich so anders lebte als Abschaffel, auch sein Leben nicht wirklich verstehen könne. Wahrscheinlich hatte er bisher nur so getan, als könnte er es verstehen. Als könnte er sich eine Vorstellung davon machen, wie sich Abschaffels Leben für ihn selbst anfühlte. Es war ihm nicht möglich, nicht gekränkt zu sein. Und er kam nicht auf die Idee, daß sowohl die anfängliche Gleichsetzung seines Lebens mit dem Leben seines Analytikers als auch die riesige Entfernung, die er nun zwischen sich und Dr. Buddenberg einrichtete, falsch sein könnten.
    Er ging in die Klinik und schloß sich in sein Zimmer ein. Er überlegte angestrengt, ob er Dr. Buddenberg, wenn er ihn heute abend sah, Vorwürfe machen sollte. Was hätte er ihm denn vorwerfen wollen? Daß er ein Kind hatte und ein Vater war? (Daß er leichter ein Vater sein konnte, weil er vermutlich einen leichteren Vater gehabt hatte, den ihm Abschaffel neidete?) Daß er verheiratet war? Daß er vermutlich ganz anders lebte als er selbst? Noch immer fühlte sich Abschaffel gekränkt, obwohl ihm doch langsam eine Ahnung kam, daß er kein Recht hatte, strafend in anderer Leute Leben herumzuphantasieren. In einem undurchdringlichen Dickicht aus falschem Beleidigtsein und vitaler Kränkung hockte er in seinem Zimmer und kam nicht auf den einfachen Gedanken, daß es unzulässig war, das eigene Leben als verbindliche allgemeine Form des Lebens anzusehen. Die Nachmittagsstille in der Klinik wandelte sich zwischen vier und sechs Uhr in eine tumbe Öde um. Alles, was es zu hören gab, war die eine oder andere Tür, die da oder dort geschlossen wurde. Und Abschaffel konnte mithören, daß die Türen sorgfältig geschlossen wurden. Weil er etwas tun mußte, zog er sein Jackett an. Als er es vom Kleiderbügel genommen hatte, schlug der leere Bügel im Schrank noch eine Weile hin und her, und an dieser heftigen Bewegung erkannte er seine

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