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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Er hatte sich die Haare rundum bis auf die Kopfhaut herunterschneiden lassen. Nur ein deckelförmiger Haaraufsatz auf seiner Kopfplatte blieb übrig. Sonst war alles kahl, und die violetten und bläulichen Schimmer, die unter der Kopfhaut sichtbar wurden, erinnerten Abschaffel an die Haut gefrorener Hühner im Kühlfach eines Supermarktes. Als der Friseur mit ihm fertig war, ächzte der Mann von seinem Friseurstuhl herunter, stellte sich mit dem Gesicht nahe an den Spiegel heran und sagte zu sich: So, jetzt kann ich mich wieder angucken. Er zahlte, wischte sich den Mund mit einem großen Taschentuch ab und verließ den Laden. Der andere Friseur, der Abschaffel bediente, stellte sich ein paar Augenblicke hinter die Scheibe und sah seinem Kunden nach. Dann zündete er sich eine Zigarette an und widmete sich wieder Abschaffels Kopf. Er ließ sich viel Zeit. Immer wieder zog er an seiner Zigarette und betrachtete sich selbst im Spiegel. Dann stellte er sich hinter sein Schaufenster und sah wieder auf die leere Dorfstraße. In der Wohnung über dem Friseurgeschäft knarrten an einer bestimmten Stelle die Dielen. Das Geräusch drang gut hörbar in den stillen Friseurladen herunter. Und weil es vergleichsweise häufig ächzte, begann Abschaffel zu überlegen, ob die Person in der Wohnung absichtlich immer wieder über die knarrende Stelle ging. Der Friseur war ein Kettenraucher; es schien ihm nichts auszumachen, daß er von seinem Kunden beobachtet wurde.
    Später in der Klinik verschlang Abschaffel gierig und schnell sein Mittagessen. Er hielt, während er aß, den Kopf dicht über dem Teller und fragte sich fast unablässig: Warum bin ich so gierig, warum bin ich so gierig. Der Dampf, der vom Teller hochstieg, beschlug ihm die Brillengläser. Aber diese Behinderung reichte nicht aus, um ihn zur Besinnung zu bringen; er spürte sogar, daß seine unverständliche Gier ihn den anderen Patienten am Tisch fremd machte und daß sie aus Betroffenheit noch langsamer und zurückhaltender aßen als sonst. Es war, als wollten sie noch mehr Gelegenheit schaffen, das unverständliche Verhalten dieses einen Patienten in Augenschein zu nehmen. Abschaffel begann sich zu schämen, und weil er die sich auf ihn beziehende Stummheit der anderen nicht ertrug, ging er sofort nach dem Essen in sein Zimmer. Er schwitzte und war erschöpft und fühlte sich schuldig. Er schämte sich und wartete darauf, bis sein Körper wieder trocken wurde. Er legte sich eine Weile hin und sah an die Decke. Er überlegte, ob er Dr. Buddenberg heute abend von dieser beleidigenden Gier erzählen sollte. Das Nachdenken strengte ihn so an, daß er bald einschlief. Er schlief fast eine ganze Stunde lang, und als er aufwachte, mußte er sich beeilen, damit er noch rechtzeitig zur Märchenaufführung im Gasthof Adler kam. Er wechselte Hose und Hemd und putzte sich die Zähne. Und als er über das Waschbecken gebeugt war, da sah er, eine Handbreit unterhalb des rechten Knies, seine erste Krampfader. Es war eine knotenartige, in einer unruhigen Linie sich hinziehende Verdickung der Haut. Eigentlich wollte er darüber erschrecken, und zwar stark; er erschrak auch, aber nur leicht, es war, als sei er an seinem eigenen Schrecken nicht besonders interessiert. Statt dessen dachte er zweimal nacheinander ungewohnt gefaßt: Das ist nur die erste! Das ist nur die erste! Er drehte sich um und besah sich seine Beine, aber er fand keine weitere Krampfader. Hoffentlich bekam er nicht die Krampfadernbeine seiner Mutter. Niemals vergaß er den Blick der Mutter auf ihre zerschundenen, offenen Beine. Denn einige der Krampfadern der Mutter hatten sich vor vielen Jahren schon geöffnet und seither nicht wieder geschlossen. Die offenen Wunden mußte sie mit Salben behandeln und verbinden. Durch ihre Strümpfe hindurch waren immer die breiten weißen Binden ein wenig oberhalb der Knöchel zu sehen. Als Kind hatte er sich lebhaft für die offenen Beine seiner Mutter interessiert. Er hatte sich niedergekniet und betrachtete aus nächster Nähe die fingernagelgroßen, violettweißlichen Hautkrater an den Beinen seiner Mutter. In diesen Augenblicken der Übernähe zu seiner Kindheit wurde er von einem weichen, fliegenden Schmerz ergriffen. Wie lange war es her, daß ihn die Wunden der Mutter interessierten! Die Krampfadern des Vaters hingegen brachen nie auf. Der Vater hatte sogar mehr Krampfadern als die Mutter, und seine waren beängstigender, weil sie dicker, länger und farbiger waren. Wie

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