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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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das wirkliche tatsächliche Leben, fühlbar wurde?) lief seine Nase. Nachlässig zog er sein Taschentuch aus der Manteltasche, und dabei fiel ein Zwei-Mark-Stück, das im Taschentuch verwickelt gewesen war, heraus und in den Schnee. Das Geldstück schlug ein langes, dünnes Loch in den Schnee. Er selbst hatte, als er Kind war, niemals Geld gefunden (das stimmte nicht, aber er glaubte es in diesen Augenblicken ganz fest), und weil ihm das Kind mit dem Eisstück in der Manteltasche immer noch leid tat, hob er sein Zwei-Mark-Stück nicht auf. Wenn der Schnee schmolz, würde ein Kind zwei Mark finden. (Und wenn es ein Alkoholiker war, der sich sofort eine Flasche Bier dafür kaufte?) Am liebsten wollte Abschaffel auf den Augenblick warten, wenn das Geldstück gefunden wurde. Er ging in die kleine Sattlacher Bahnhofshalle, und es machte ihm Spaß, daß er sich an die Zwei-Mark-Fundstelle im Schnee immer noch genau erinnerte. Hinter dem Fahrkartenschalter saß ein junger Beamter, der kurz aufschaute. Abschaffel setzte sich auf die Holzbank in der Nähe der Fenster. Sollte er die Münzengeschichte nachher der Wollpatientin erzählen? Drei Gastarbeiter betraten die Bahnhofshalle. Sie packten Süßigkeiten aus und steckten sie sich in den Mund. Das Einwickelpapier der Bonbons warfen sie ordentlich in den Papierkorb. Einer der Männer wog sich auf der öffentlichen Waage. Die Waage hatte an der Seite einen Schlitz, in den der Mann zwei Zehn-Pfennig-Stücke einwarf. Die Waage summte kurz, und es fiel ein kleines Kärtchen in eine Luke, auf dem das Gewicht des Gastarbeiters zu lesen war. Darüber mußten alle drei Männer lachen, und auch die beiden anderen stellten sich nacheinander auf die Waage. Abschaffel sah ihnen nach, als sie den Bahnhof verließen. Jetzt hatte er die Zwei-Mark-Stelle im Schnee nicht mehr in Erinnerung! Er sah hinaus, aber er blieb unsicher. Er setzte sich noch einmal auf die Holzbank. Er wußte nicht mehr, worauf er noch wartete. Ein sehr junges, bäurisches Liebespaar betrat die Halle. Auch sie kauften keine Fahrkarte, und der junge Schalterbeamte sah wieder umsonst auf. Sie hatten wahrscheinlich einen Spaziergang gemacht und wollten sich hier nur aufwärmen. Das Mädchen war dick und blond und trug einen Lammfellmantel, der sie noch dicker machte. Sie war höchstens sechzehn Jahre alt. Ihr Freund trug eine braune Cordjacke und eine hellbeige Cordhose. Er streifte seine Handschuhe ab und rieb mit bloßen Händen die Oberarme seiner Freundin. Die Zähne des Mädchens schlugen schnell aufeinander. Der Freund warf ein Fünfzig-Pfennig-Stück in einen Süßigkeiten-Automaten und zog eine kleine Schachtel mit gezuckerten Erdnüssen heraus. Er riß die Schachtel auf und steckte abwechselnd sich und seiner Freundin die Erdnußkerne in den Mund. Neben dem Süßigkeiten-Automat stand ein Paßbild-Automat. Der Freund schubste das Mädchen in die kleine Kabine hinein und sagte, er käme gleich nach, wenn er das Geld eingeworfen hätte, und dann hätten sie Fotos von sich. Aber er steckte kein Geld in den Paßfoto-Automaten. Das Mädchen wartete in der Kabine, bis ihr Freund kam. Als er drinnen war, zog er den kleinen Vorhang der Kabine zu und setzte sich das Mädchen auf den Schoß. Das Mädchen begann zu kichern, und der Junge hielt sie fest. Als sie merkte, daß der Foto-Automat überhaupt nicht in Tätigkeit gesetzt worden war, rannte sie heraus und ordnete sich draußen die Haare. Der Schalterbeamte sah wieder auf. Dann verließen die beiden die Schalterhalle. Kurz danach ging Abschaffel in die Klinik zurück.
    Die Wollpatientin war in ihrem Zimmer. Oh, machte sie freundlich, als er eintrat. Wollen Sie wirklich zu mir? fragte sie. Sie hatte ihren Rollkragenpullover an. Ja, sagte Abschaffel, seit ungefähr einer Woche, aber erst heute passiert es. Und warum glauben Sie, daß ich mich an der Tür geirrt habe? Ach, machte sie, ich bin in letzter Zeit bescheiden geworden. Sie waren spazieren? Ja, sagte er, ein bißchen nur, und Sie haben gelesen? Auch nur ein bißchen, sagte sie, ich habe die Grippe wie fast jeden Winter und fühle mich matt und schwer und immer ein halber Schnupfen in der Nase, der nicht richtig kommt und nicht richtig verschwindet. Sie hielt ein Papiertaschentuch in der Hand und tupfte sich von Zeit zu Zeit die Stirn ab. Sehen Sie mich nicht so an, sagte sie, sonst meine ich, daß Sie gleich wieder gehen. Das glaube ich nicht, sagte er lachend; ich habe mir eine Woche lang vorgenommen, zu Ihnen

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