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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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sagte er. Aber jetzt bin erst ich ’ne Weile dran, sagte sie. Ja ja, dreh dich um, machte er. Abschaffel setzte sich im Bett auf und lehnte sich mit dem Rücken in die Ecke der beiden zueinander verlaufenden Wände. Dagmar streckte ihm die Füße in den Schoß und hielt still. Was machst du denn beruflich? fragte er nach einer Weile. O Gott, erinnere mich nicht daran, sagte sie, aber einmal muß ich es dir sowieso sagen, ich bin Sachbearbeiterin bei den Stadtwerken in Delmenhorst oder, wenn du es genau wissen willst, ich bin Mahndisponentin. Wenn einer seine Gasrechnung nicht rechtzeitig bezahlt, kriege ich die ausstehende Rechnung auf den Schreibtisch. Dann setze ich dem Kunden eine neue endgültige Frist, und wenn er in dieser Frist nicht bezahlt, leite ich die unbezahlte Rechnung in den Werkshof weiter, und das bedeutet, daß der Kunde das Gas abgestellt kriegt. Abschaffel hörte zu. Aber das ist nicht meine Hauptarbeit, sagte sie. Es gibt viele Leute, die glauben, wenn sie aus einer Wohnung ausziehen, brauchen sie die letzte Gasrechnung nicht zu bezahlen. Sie verschwinden einfach und meinen, sie wären wirklich verschwunden. Wenn so etwas passiert, gebe ich eine Suchmeldung an alle Einwohnermeldeämter durch, und meistens dauert es nicht lange, dann wird mir die neue Adresse mitgeteilt. Und dann müssen sie bezahlen. Na ja, das wär’s, sagte sie. Abschaffel streichelte ihre Fußsohlen und sagte nichts. Draußen dämmerte der Spätnachmittag über das Land. Ringsum war kein Laut zu hören. Es war, als unterhielte der Sonntagnachmittag besondere Beziehungen zur Stille. Dagmar erzählte einen besonders schweren Fall aus ihrer Mahnpraxis. Nach einer Weile streichelte sie ihn wieder.
    Abschaffel war nun drei Wochen in der Klinik. Die Hälfte der Zeit, die er insgesamt hier sein würde, war vorüber. Er hatte sich gut eingewöhnt, und es gefiel ihm in der Klinik. Abwechselnd ging er zur Massage, in die Gymnastik und zu Dr. Buddenberg. Er hatte sich die Überzeugung gebildet, daß er nicht wirklich und nicht lebensbedrohend erkrankt war. Durch die Gymnastik hatte sein Körper eine Beweglichkeit zurückgewonnen, die er nicht für möglich gehalten hätte. Er hatte sogar begonnen, sich an die Erscheinung der anderen Patienten zu gewöhnen. Alles, was sie erzählten, war in der Regel harmlos oder gefällig. Ein Arbeiter, der das Wort Psychotherapeut nicht sagen konnte und statt dessen das Wort Psychologie-Arzt eingeführt hatte, erinnerte sich fast regelmäßig am Frühstückstisch an seinen Urlaubsort. Seit vielen Jahren fuhr er mit seiner Familie in einen bestimmten Ort und machte dort Wanderferien. Der Ort hieß Ötz, und das dazugehörige Tal hieß Ötztal. Im Ötztal wandert auch Rudolf Schock, erzählte er oft, und es gibt dort sogar einen Rudolf-Schock-Wanderweg, ich selbst bin dem berühmten Sänger aber noch nicht begegnet beim Wandern. Dafür haben wir vom Bürgermeister die silberne und die goldene Wandernadel bekommen, sagte er. Von einem anderen, etwa vierzigjährigen Patienten war bekannt, daß er hier war, weil sich eine Operationsnarbe nicht mehr schloß. Wo er operiert worden war, hatte er eine offene Wunde. Abends saß er im hellerleuchteten Aufenthaltsraum und las Kriegsbücher. Eine stets äußerst einfach gekleidete Patientin aus dem Ruhrgebiet bastelte Kreuze aus Karton und abgebrannten Streichhölzern. Zuerst schnitt sie aus Schuhschachtelkarton Kreuze aus und beklebte sie symmetrisch mit Streichhölzern, so daß ein fertiges Kreuz aussah wie eine Einlegearbeit. Bastelnd saß sie im Aufenthaltsraum und gab sich der Täuschung hin, daß jemand sie auf ihre Pappkreuze ansprach. Eine andere Patientin, die Dagmar ein wenig näher kannte, war so depressiv, daß sie ihre Wohnung zu Hause nicht mehr reinigen konnte. Sie putzte nur noch diejenigen Wege und Stellen, die sie wirklich benutzte, so daß sich in ihren total verschmutzten Zimmern bestimmte Gehwege und Stehplätze herausgebildet hatten. Ihr Therapeut las mit ihr gemeinsam die Zeitung und schickte sie, um sie wieder ins Leben zurückzubringen, manchmal ins Dorf. Wenn sie zurückkam, sollte sie ihm berichten, was sie erlebt hatte. Einige wenige Patienten zeigten offen, daß sie lediglich hier waren, um sich zu erholen. Die meisten Patienten glaubten, daß ihr Aufenthalt etwas Positives bewirkte; unter ihnen gab es viele, die eifrig darin waren, angebliche Erfolge ihrer Behandlung mitzuteilen. Besonders der Patient mit dem Zahnstocher, ein

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