Abschaffel
hatte einige Tage gewartet, bis seine Grippe fast ganz verschwunden war. Er fühlte zwar immer noch einen leichten Druck im Kopf, und sein Gesicht war noch immer von einer dünnen Schicht kalten Schweißes überzogen, aber er fühlte sich dadurch nicht besonders eingeschränkt. Bei zufälliger Begegnung, nach dem Frühstück oder abends im Fernsehraum, hatte er immer wieder kurze Gespräche mit der Wollpatientin geführt. Einmal, als sie im Foyer auf eine Gruppe von Patienten wartete, um mit ihnen eine Schneewanderung zu machen, traf er sie, und sie fragte, ob er nicht mitwandern wolle. Wandern war ihm ein Greuel, und er sagte lachend ab. Er blieb ein bißchen bei ihr stehen, und gemeinsam sahen sie durch die hohen Scheiben den Vögeln zu, die sich im Schnee ihre Nahrung suchten. Und weil er um ein Gesprächsthema verlegen war, erzählte er ihr seinen Lieblingswitz, der ihm bei der Betrachtung der Vögel eingefallen war. Tatsächlich mußte sie über seinen Witz lange lachen, und sie versprach, den Witz sofort an die anderen Patienten weiterzuerzählen. (Drei kleine Mäuse sitzen vor ihren Löchern auf dem Feld und sind traurig. Sie schauen wortlos den Vögeln zu, die munter von Baum zu Baum schwirren. Nach einer Welle sagt die traurigste Maus: Wie schön wäre es, wenn ich ein Vogel wäre und auch so wunderbar durch die Luft fliegen könnte. Über diesen Wunsch müssen alle drei Mäuse lange nachdenken, und dabei werden sie noch trauriger. Bis schließlich die zweittraurigste Maus sagt: Es wäre natürlich schön, wenn man ein Vogel wäre und fliegen könnte. Aber noch viel schöner wäre, man könnte zwei Vögel sein, denn dann könnte man hinter sich herfliegen. Über diesen Wunsch müssen die Mäuse noch länger nachdenken, und sie werden noch trauriger dabei. Bis die dritte Maus sagte, die am allertraurigsten war: Am schönsten wäre es, wenn man drei Vögel sein könnte. Denn dann könnte man zuschauen, wie man hinter sich herfliegt.) Während des Lachens hatte die Wollpatientin ihren Kopf nach hinten gedreht, so daß Abschaffel gut in ihren offenen Mund sehen konnte. Eigentlich wollte er sie gleich bitten, seinen Lieblingswitz nicht an die anderen Patienten weiterzuerzählen, weil es ihm nicht recht war, daß ihn dann so viele Leute kannten. Aber er traute sich nicht, weil er nicht übermäßig sonderbar erscheinen wollte. Ein Witz war doch dazu da, daß er weitererzählt wurde, oder nicht?
Es gelang ihm nicht, an diesem frühen Sonntagnachmittag mit dem Fahrstuhl einfach in den fünften Stock zu fahren und an die Tür der Wollpatientin zu klopfen. Er wollte vorher ein wenig umhergehen und mit neuen Eindrücken zurückkommen, die er dann erzählen wollte. Davon versprach er sich eine direktere Wirkung, als wenn er einfach ein wenig versunken und schläfrig von seinem Zimmer in ihr Zimmer gewechselt hätte. Er lief in Richtung Bahnhof, und die frische Luft tat ihm gut. Vor dem Bahnhof beobachtete er ein Kind, das aus einer gefrorenen Pfütze ein kleines Stück Eis herausbrach und es sorgfältig in der Manteltasche verstaute. Im ersten Augenblick wollte er dem Kind sagen, daß sich das Eisstück nicht in seiner Manteltasche hält. Aber er sprach das Kind nicht an und war statt dessen für ein paar Augenblicke so traurig wie das Kind, wenn es später entdeckte, daß sich das Eis lediglich in einen nassen Fleck verwandelte. Als Abschaffel so alt gewesen war wie dieses Sattlacher Kind, hatte er bemerkt (oder war es ein oder zwei Jahre später?), daß die Länder Rußland und Amerika offenbar immer Streit miteinander hatten. Sogar die Zeitungen mußten immerzu über diesen Riesenkrach schreiben. Und das Kind Abschaffel hatte den Einfall, die beiden obersten Männer von Rußland und Amerika, das waren damals Bulganin und Eisenhower, einmal zu sich nach Hause einzuladen beziehungsweise in das Wohnzimmer der Eltern, und ihnen Kaffee und Zwetschgenkuchen anzubieten, damit sie sich endlich einmal richtig aussprechen könnten. Einige Monate lang war das Kind Abschaffel vom Erfolg dieser Einladung hundertprozentig überzeugt. Wie wunderschön wäre es gewesen, wenn endlich einmal Friede gewesen wäre zwischen diesen beiden Herren! Aber weil Abschaffel die Einladungen nie abschickte (kein Mensch wußte die Adressen von Bulganin und Eisenhower), konnte der Streit auch nie aufhören. Mitten in seine weichen Erinnerungen hinein (durch wieviel Kulissen von Irrtümern mußte man denn hindurchgehen, bis endlich die letzte Wand,
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