Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
Vom Netzwerk:
zu kommen, da werde ich mich doch jetzt nicht von Ihrem halben Schnupfen vertreiben lassen. Also gut, machte Sie, wollen Sie ein Glas Rotwein? Sie sind doch auch erkältet, oder? Es ist schon fast vorbei, sagte er. Ich habe Sie beobachtet, wie Sie verschwitzt zu Mittag gegessen haben, sagte sie. Sie schenkte zwei Gläser Rotwein. Das einzig Schöne bei solchen Erkältungen ist Rotwein trinken, sagte sie, das euphorisiert den Körper und macht ihn lustig. Das geht auch ohne Erkältung, sagte er. Sie lachte. Ja sicher, sagte sie, aber die Euphorie ist anders, wenn der Alkohol in einen erkälteten Körper kommt, ich kann es nicht beschreiben. Cola trinken ist auch schön, wenn man Grippe hat, aber hier gibt es keine Cola.
    Sie tranken Rotwein, und Abschaffel sah aus dem Fenster. Sie heißen Dagmar, nicht wahr? Ja, antwortete sie, wie haben Sie das herausgefunden? Hier liegt ein Briefumschlag, und da steht Ihr Name drauf. Ach so, sagte sie, ich dachte schon, Sie hätten geschnüffelt. Der Brief ist von meinem Vater, wollen Sie ihn lesen? Er überlegte tatsächlich, ob er ihn lesen sollte oder nicht, aber er kam zu keiner Entscheidung, weil sie von ihrem Vater zu erzählen begann. Er schreibt mir hilflose Briefe, und ich weiß nicht, wie ich ihm helfen soll. Meine Mutter ist seit sieben Jahren tot, und er möchte, daß ich nach Hause komme und bei ihm bin, sagte sie. Er hörte zu. Mein Vater hat sich nie ausdrücken können, solange meine Mutter lebte. Nur wenn er getrunken hatte, ging es einigermaßen. Aber seit einigen Jahren schreibt er mir ganz nette Briefe. So hat er nie geredet zu Hause. Anfangs habe ich geglaubt, als Kind meine ich, daß mein Vater einfach nicht sprechen wollte. Nur bei den wenigen familiären Ereignissen, als ich Konfirmation hatte zum Beispiel, erzählte er. Aber da waren auch andere Leute dabei, und da traute sich meine Mutter nicht, ihm über den Mund zu fahren. Eines Tages hatte ich den Verdacht, daß es meine Mutter war, die ihn zum Schweigen abgerichtet hatte. Ich merkte es daran, daß sie anfing, als ich dreizehn oder vierzehn war, auch mir immer öfter das Reden zu verbieten. Halt doch deinen Mund, du weißt doch gar nichts, sagte sie immer. Ich schämte mich und schwieg. Und seit meine Mutter tot ist, fangen wir an zu reden, mein Vater und ich. Mein Vater schreibt mir sogar Briefe, wenn das meine Mutter wüßte. Heute kann ich soviel sprechen, wie ich will, obwohl ich oft das Gefühl habe, alles, was ich sage, ist gar nicht wahr. Sie lachte. Was machen Ihre Eltern? fragte sie; leben sie noch? Ja sagte er, sie leben noch. Ist es schwierig mit ihnen? fragte sie. Ich sehe sie selten, sagte er.
    Dagmar schenkte Rotwein nach. Als sie sich über den kleinen Tisch beugte, fielen ihre Haare nach vorn, und Abschaffel stellte sich zum erstenmal vor, wie es wäre, wenn er mit ihr schliefe. Er stellte sich außerdem vor, daß sie nichts dagegen hatte. Vielleicht will sie es genauso stark wie ich, dachte er, aber vielleicht will sie es auch überhaupt nicht. Ist es draußen genauso kalt wie gestern? fragte sie. Wahrscheinlich, sagte er, aber ich kann es eigentlich nicht genau sagen. Ich gehe davon aus, daß es Winter ist, und das genügt mir als Grundinformation, sagte er. Sie lachte. Handschuhe sollte man auf jeden Fall anziehen, sagte er. Handschuhe! rief sie. Frieren Sie nicht an den Händen? fragte er. Doch, und wie, sagte sie. Am besten sind Handschuhe aus Lammfell, sagte er; vorhin habe ich unten im Dorf ein junges Mädchen gesehen, das Handschuhe aus Lammfell hatte. Das Mädchen zog ihre Hände immer wieder ein wenig aus den Handschuhen heraus, vielleicht weil sie spüren wollte, wie kalt es draußen war. Oder weil sie spüren wollte, wie warm ihre Handschuhe innen sind. Sie lachte kurz. Dann stürzte sie mit den Händen ganz schnell in die Handschuhe hinein, und das hat mir am besten gefallen, sagte er. Kurz bevor sie sich küßten, hatte er das Gefühl, daß alles, was er an Zärtlichkeit zur Zeit anzubieten habe, eine nervöse, leise Stimme sei. Küßt du mich zum Trost? fragte sie. Nein, sagte er. Und meine Grippe macht dir auch nichts aus? Nein, sagte er. Du hast fast so große Ohren wie mein Vater, sagte sie. Ist das schlimm? fragte er. Nein. Ich habe das Gefühl, daß ich gar nicht mehr richtig küssen kann, sagte er. Sie schwieg. Beziehungsweise, verbesserte er, ich komme mir so abgenutzt vor. Wir sind eben ein bißchen angealtert, sagte sie. Als sie die dunkelroten, schweren

Weitere Kostenlose Bücher