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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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geschehen. Die Scham, der Zorn, die Reue, alles floß in seinem Körper umher und besetzte die leeren Stellen. Nur mit Mühe konnte er sich davon abhalten, weitere Fingernägel herunterzureißen. Er ballte beide Hände zu Fäusten und steckte sie in die Hosentaschen: so wie es ihm vor zwanzig Jahren seine Mutter empfohlen hatte, als er am Wohnzimmertisch saß und versuchte, Schulaufgaben zu machen. Die Schule konnte er überhaupt nur dann hinnehmen, wenn er sich gleichzeitig wenigstens die Fingernägel abbeißen durfte. Unter dem Tisch stürzten die Finger beider Hände mit nervöser Dringlichkeit aufeinander los und rissen alles weg, was über die Fingerkuppen hinaus zu spüren war, während er über dem Tisch versuchte, konzentriert Zeile für Zeile aus seinem Englischbuch zu lesen. Und die Mutter erschien in einem groß geblumten Kaufhof-Kleid und sah seinem Gesicht an, wie vergeblich alles war. Eigentlich spielte er nur einen Schüler, und er wollte doch so gern ein richtiger Schüler sein! Ein kleines, schmutziges Unglück saß eben am Tisch und schmutzte weiter. Abschaffel sah aus seinem Fenster und stellte fest, ob seine Mutter nicht heimlich das Dorf Sattlach betreten hatte und ihn suchte, so wie sie damals ohne Vorwarnung jederzeit das Wohnzimmer betreten konnte. Manchmal erschien auch noch die Schwester der Mutter am Nachmittag und trank Kaffee und aß Pflaumenkuchen und erkundigte sich nach seinen Leistungen in der Schule. Und diese Schwester empörte sich jedesmal über Abschaffels abgebissene Fingernägel. Schon wenn sie das Zimmer betrat, rief sie, noch in der Tür stehend: Der Junge, was er wieder macht! Laß das! Und sie kam an den Tisch heran und hatte das Recht, sich seine abgebissenen Fingernägel einzeln zeigen zu lassen und sich noch einmal zu empören. Und eines Tages kam sie auf die Idee, ihm für jeden nachgewachsenen Fingernagel zwei Mark zu geben. Das wäre vielleicht schön gewesen (zehn nachgewachsene Fingernägel hätten zwanzig Mark ergeben: guter Gott, ein halbes Vermögen, fast nicht vorstellbar, das Glück fast, mindestens die halbe Ewigkeit: damals, 1953 oder 1954), wenn nicht bereits die Mutter ein anderes Belohnungssystem auf ihn angesetzt hätte: Sie zahlte für richtig gemachte Schulaufgaben jeden Tag fünfzig Pfennig. Ein Fingernagel brauchte, um ordentlich nachgewachsen zu sein, zehn bis zwölf Tage. So lange mußte er mindestens warten, um wenigstens an ein Zwei-Mark-Stück der Tante heranzukommen. Andererseits konnte er die Schulaufgaben nicht machen, wenn er nicht an den Fingernägeln herumnagen durfte. Was hätte er tun sollen? Zwei Belohnungen kämpften sich in seinem Körper tot, und er mußte zuschauen und am Ende fast leer ausgehen. Denn die zwei Mark der Tante für einen ausgewachsenen Fingernagel waren in Wahrheit nicht erreichbar. Es war keine Belohnung, sondern eine Tortur, die gar nicht galt. Es war verrückt, aber es war das Leben. Auch die fünfzig Pfennig der Mutter fielen meistens flach. Denn sie bemerkte, daß er kaum etwas in seinen Heften ausrichtete und die meiste Zeit nur aus dem Fenster sah. Dann trat sie theatralisch an den Tisch und verkündete, daß er sich die fünfzig Pfennig wieder nicht verdient hatte. Nach Lage der Dinge hätte er die Hefte und Bücher gar nicht mehr auszupacken brauchen, aber das hatte er sich nicht getraut.
    Abschaffel erhob sich und schloß die Zimmertür ab. Er leckte sich die Stelle, wo er sich den Fingernagel abgerissen hatte, weil sie ein wenig blutete und schmerzte. Als er sich wieder setzte, entdeckte er im Teppichboden eine Stecknadel. Er sah die Nadel lange an und überlegte, wie sie in sein Zimmer gekommen war. Sollte er sie aufheben und wegwerfen, oder sollte er sie liegenlassen? Er bemerkte, daß ihn diese überflüssigen Gedanken endlich von sich selbst ablenkten. Wie wunderbar erleichternd es war, wenn ein Körper von seiner Geschichte verlassen wurde. Dieses Glück war es, das Abschaffel immer suchte, und er hatte es Dr. Buddenberg gegenüber nicht ausdrücken können. Er hob die Nadel nicht auf, sondern merkte sich die Stelle, wo sie lag. Wenn er sich wieder so angestrengt fühlte, wollte er wieder die Nadel im Teppichboden ansehen und abwarten, ob die Beruhigung noch einmal gelang.
    Am Sonntag wollte er die Wollpatientin endlich ansprechen oder in ihrem Zimmer besuchen. Er wußte noch nicht, wie er es anstellen sollte. Für das gewöhnliche Anknüpfungsgespräch fühlte er sich zu alt und zu umständlich. Er

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