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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Er empfand es heute als groteske Bettelei, nur wußte er nicht, was er eigentlich hatte erbetteln wollen. Weder die Eifersucht noch die Heulerei traten jemals wieder auf. Weil er seine Geschichte nicht verstand, wurde er ihr gegenüber so sentimental, daß er den Wunsch verspürte, die Mutter des Mädchens sofort anzurufen und ihr zu sagen, daß ihre Tochter von keinem Menschen jemals so geliebt worden war wie von ihm. Dieser uralte nachpubertäre Quatsch breitete sich mit enormer Dreistigkeit in seinen Gefühlen aus. In seiner Wut redete er sich ein, das Mädchen in Wahrheit längst vergessen zu haben. Das war nicht wahr. Die Erinnerung an diese Jugendliebe setzte ihm so zu, daß er sich rasch ankleidete und mit schimpfendem Gemüt sein Zimmer verließ. Die Wahrheit war, daß es nur wenige Menschen gab, an die er sich so genau erinnerte wie an dieses Mädchen. Sogar das Aussehen ihrer Kleidungsstücke, ihrer Schuhe und Taschen und Halstücher hatte er genau im Kopf. Eben rutschte ihm das Bild ihres türkisfarbenen Flauschpullovers in die Erinnerung. Solche Pullover waren damals, Ende der fünfziger Jahre, bei den jungen Mädchen sehr beliebt gewesen. Wenn sie diesen Flauschpullover trug, und er griff ihr an den Busen, dann war es für ihn so, als sei sie ein wundervoller Paradiesvogel, der nur aus Flausch bestand, ein phantastisches Geschöpf aus Wärme und Schönheit, das er nur mit kitschigen Schmerzen begehren konnte.
    Schon war er im Dorfinneren, und er befand sich in übler Laune, in einem gehenden Murren und Stehenbleiben, das ihn nicht verließ. Aus sentimentaler Verzweiflung (die Verzweiflung war nicht ganz echt, und das ärgerte ihn auch) blieb er vor dem Schaufenster eines Möbelgeschäfts stehen, an dem er bisher immer hochmütig vorbeigelaufen war. In diesem Schaufenster stand ein riesiges Doppelbett, das bis dicht an die Scheibe heranreichte. Es nahm fast den ganzen Raum des Schaufensters in Anspruch; rechts, wo noch ein wenig Platz war, stand ein weißgestrichener Wäschekorb, und links, dicht hinter der Scheibe, waren sechs kleine Flaschen Möbelpolitur nebeneinander aufgereiht. Er beugte sich nieder und las die winzig klein gedruckte Gebrauchsanweisung auf einer der Flaschen. Ahhh, wie nichtig und dumm das Leben sein konnte! Sein Rücken schmerzte, und er las die Gebrauchsanweisung nicht zu Ende. Da entdeckte er die neue Telefonzelle, die vor vierzehn Tagen noch verpackt gewesen war. Sie war ausgepackt und erhob sich wunderbar gelb zwischen zwei Baumstämmen. Seine Laune hatte sich so verschlechtert, daß er sich nun auch noch übelnahm, nicht das erste Gespräch aus dieser neuen Telefonzelle heraus geführt zu haben. Verdrossen ging er an der Telefonzelle vorbei und bog in die engste und kürzeste Gasse von Sattlach ein. Zwei kleine Schaufenster gab es in dieser Gasse anzuschauen. Eines gehörte zu einem Lampengeschäft, das andere zu einem Wollgeschäft. Im Lampenschaufenster hingen ein paar traurige Flurlampen mit matten Glasglocken, und im Wollschaufenster verstaubten genau vierzehn verschiedene Wollknäuel. Schon war er am anderen Ende der Gasse angelangt. Auf dem Marktplatz hielt eben ein schwerer roter Bundesbahnbus. Schulkinder, alte Leute und Bauersfrauen stiegen nacheinander aus. Der laufende Motor ließ die Frontscheibe leicht vibrieren. Immer noch stiegen Leute aus, ehe die Sattlacher Fahrgäste zusteigen konnten. Einige Augenblicke lang hatte Abschaffel Lust, ebenfalls mitzufahren, aber er wußte, daß dieser Bus lediglich in andere, ähnliche Dörfer fuhr, die er nicht sehen wollte. Außerdem hatte er später bei Dr. Buddenberg eine Stunde, und auch Dr. Haak wollte ihn am Nachmittag untersuchen. Wenn er je sein Leben nicht mehr aushalten sollte, dann wollte er in einem solchen überbesetzten Bus erschossen werden. Und zwar wollte er hinten auf der Plattform mit dem Rücken zum Fenster stehen und dann während der Fahrt von einer draußen auf der Straße stehenden Person durch die Busscheiben hindurch abgeknallt werden. Weil das Fahrgeräusch des Busses sehr laut wäre, würde niemand den Schuß hören. Und weil besonders die hintere Plattform überfüllt wäre, weil jeder an jedem lehnte und alle sich gegenseitig stützten und hielten, wäre er eingeklemmt in einer wogenden Menge von Fahrgästen und könnte nicht umfallen. Erst am Ziel der Fahrt, an der Endstation, wenn sich der Bus leerte, würde er tot umfallen und der Länge nach auf die Plattform aufschlagen, und der Fahrer würde

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