Abschaffel
erschöpften Körper umher. Auch den anderen Patienten erging es ähnlich wie ihm. Nach etwa zehn Minuten setzte sich Abschaffel wieder in Bewegung. Die Leichtigkeit von zuvor war nicht sofort wieder da. Er spürte außerdem einen leichten Schmerz in den Beinen. Zum allererstenmal, seit er in der Kur war, fühlte er nun eine Spannung im Rücken, die ihm Angst einflößte. Die Spannung fühlte sich an, als sei sie der Vorbote eines Schmerzes, den er gut kannte und den er nicht wiederhaben wollte. Vielleicht irrte er sich auch. Er lief langsamer als zuvor. Eine diffuse Schmerzerwartung schränkte ihn rundum ein, und er bereute die Pause, die er gemacht hatte. Auch die befreiende Leere des Kopfes stellte sich nicht wieder ein. Er lief wie jemand, der etwas vermeiden mußte. Es war, als hätte mindestens einer seiner inneren Herbergsväter, wahrscheinlich die Angst, sämtliche Bewohner der Herberge vertrieben, und nun lief und hastete diese Bande wieder frech durch den Körper.
Erschöpft, schwer atmend und durchnäßt kam er bei der Klinik an. Er ging sofort in sein Zimmer und spülte sich den Mund durch. Er band sich ein Handtuch um den Kopf, legte sich hin und breitete eine Decke über sich aus. Rasch schlief er ein. Er hätte wahrscheinlich länger geschlafen, aber nach ungefähr einer halben Stunde bekam er eine Erektion und wachte auf. Er verschränkte die Arme hinter seinem Kopf, und es fiel ihm seine allererste feste Freundin ein. Beide waren achtzehn gewesen. Zwei Jahre lang hatten sie sich gekannt, und es hätte eine schöne Jugendgeschichte werden können, wenn Abschaffel mit einer unglaublichen Eifersucht nicht alles verdorben hätte, was es an dieser Geschichte zu verderben gab. Er ließ sich fast jeden Abend (manchmal am Telefon) lückenlos von ihr berichten, mit welchen männlichen Kollegen unter welchen Umständen sie tagsüber im Büro zusammengewesen war. Sie ging auf seine Aufforderungen ein, und während sie ihm ihren beruflichen Umgang mit Kollegen im Detail auseinandersetzte, begann er zu leiden. An einem bestimmten Punkt ihrer Mitteilung (es ging um nichts) litt er so stark, daß ihm die Tränen kamen, und die Tränen verschafften ihm Erleichterung. Das Mädchen war bestürzt. Er geriet in einen solchen Schmerz, als hätte er tatsächlich Grund zur Eifersucht. Zugleich litt er unter dem Theater seiner Eifersucht, aber das war nicht sagbar. Er wußte, daß alles nur Theater war, aber er spielte den Ernst. Und er spürte, daß das Mädchen klug war und sich unendlich langsam von ihm löste. Die beginnende Trennung war noch unerträglicher als das Zusammensein: Er litt darunter und lebte zugleich auf. Weil sie sich als Paar aber zu stark aufeinander eingelassen hatten, bedurfte es einer besonderen Strategie, um die Trennung tatsächlich einzuleiten (das glaubte er heute). Sie behauptete, als Au-pair-Mädchen nach England gehen zu wollen, um die Sprache zu lernen. Er polemisierte von Anfang an gegen diesen Plan, weil er spürte, daß er ein Teil des Trennungsmanövers war. Zum anderen Teil benahm er sich weiterhin absichtlich unerträglich, damit sie ihren Plan auch durchsetzte. Zwischen diesen beiden Positionen kippte er hin und her und wußte nicht mehr, was die Wahrheit war. Seine Vermutung, daß ihr England-Aufenthalt nur ein verdeckter Trennungswunsch war, konnte er wiederum nicht aussprechen, weil sie das offiziell geltende Vertrauen zwischen ihnen grob verletzt hätte. Sie bestand darauf, Englisch lernen zu wollen, und er bestand darauf, daß sie bei ihm blieb. Mit diesem künstlichen, aufwendigen Konflikt erarbeiteten sie sich mühsam ihre Trennung. In der letzten Phase der Zermürbung (drei Monate vor ihrer Abreise) lernte er etwas Schreckliches: Er lernte heulen, wann er es wollte. Er konnte sich in eine Stimmung versetzen, in der ihm die Tränen kamen. Das Mädchen hielt diesem Druck stand. Vielleicht ahnte sie, daß er nur heulte, weil er sie loswerden wollte, genau wie sie ihm bewegt versprach, nach spätestens eineinhalb Jahren wieder zurück zu sein, weil sie ihn mit Sicherheit nie wiedersehen wollte. Und so geschah es auch. Sie schrieben sich noch eine Weile bittere, aber langweilige und kraftlose Briefe. Die Entfernung hatte sie beide aus der gegenseitigen Verpflichtung genommen. Sie heiratete bald, und Abschaffel sah sie nie wieder.
Er drehte den Kopf zur Seite und stöhnte ein wenig. Über sein pubertäres Heulen von damals mußte er lachen, obwohl er es immer noch nicht verstand.
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