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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Überheblichkeit lag, fühlten sich gleich zwei andere Patienten herausgefordert. Aber man lernt doch schon, ein wenig wahrhaftiger miteinander umzugehen, sagte eine junge Frau. Das glaube ich nicht, sagte Herr Elsner aus Düsseldorf; im Gegenteil, das neuerworbene Wissen über sich und die anderen verwendet man doch nur dazu, um noch besser weiterschimpfen zu können, gegen die anderen und gegen sich selbst. Schimpfen Sie sich selbst aus? fragte die Musiklehrerin. Natürlich, sagte Herr Elsner, Sie etwa nicht? Also mir hat die Gruppe schon geholfen, sagte die Musiklehrerin. Jedenfalls gelingt es mir heute schon manchmal, meinen Vorteil wahrzunehmen, wo ich früher immer nur abgehauen bin. Neulich zum Beispiel habe ich in der Wäscherei meine Wäsche abgeholt, und in meinem Zimmer habe ich festgestellt, daß ein Stück fehlte, eine Bluse. Früher wäre es für mich undenkbar gewesen, in die Wäscherei zurückzugehen und das fehlende Stück nachzuverlangen. Ich habe immer geglaubt, die Leute glauben mir nicht. Und diesmal bin ich in die Wäscherei und habe gesagt, es fehlt eine Bluse. Meine Stimme hat zwar gezittert und ist leise geworden, aber ich habe den Satz zu Ende gebracht. Die Musiklehrerin war ein wenig errötet. Stolz richtete sie ihren Körper auf und öffnete ihre kleinen Augen. Ein paar Tage später habe ich die Bluse bekommen, sagte sie.
    Abschaffel war froh, daß die Sekretärin und die Musiklehrerin das Gespräch an sich gezogen hatten. Er sah unter den Tisch und betrachtete die stahlblauen Strümpfe der magersüchtigen Musiklehrerin. Ihre dünnen, steckenhaften Beine waren ekelhaft, und fast jeden Tag trug sie diese graublauen Strümpfe. Abschaffel war mit dem Frühstück nahezu fertig. Draußen war ein heller Morgen. Die Sonne schien schwach über die Schneefelder. Er beobachtete die großen Krähen, die sich draußen auf den Feldern niedergelassen hatten. Krähen von dieser Größe hatte er nie zuvor gesehen. Wenn sie sich aufrichteten, waren sie fast so groß wie Katzen. Offenbar suchten sie nach Nahrung. Einige flogen bald wieder auf und setzten sich hoch oben auf die Hochspannungsleitungen, die an der Klinik vorbei über die Berge führten.
    Die Wuppertaler Sekretärin erzählte ausnahmsweise einmal keine Erlebnisauftrumpfgeschichte, sondern etwas aus ihrer Kindheit. Ich hätte gern Klavierstunden gehabt, aber meine Eltern haben es nicht erlaubt, sagte sie; sie hatten andere Sorgen, es war eben Nachkriegszeit, und wir hatten nur eine kleine windige Wohnung und fast kein Geld. Sie wischte sich den Mund ab und sah aus dem Fenster. Gegen die Scheiben sagte sie: Später ist es dann nie wieder dazu gekommen, obwohl ich es eigentlich immer wollte. Sie sollten sich diesen Wunsch erfüllen, sagte die Musiklehrerin. Sicher, sagte Abschaffel überraschend, man sollte sich solche Wünsche erfüllen. Aber man ist ja schließlich nicht mehr der Jüngste und auch nicht mehr so aufnahmefähig, sagte er. Die beiden Frauen sahen ihn an. In ihr Schweigen hinein fuhr er fort: Auch ich habe mir einmal, es ist noch gar nicht so lange her, einen Wunsch erfüllen wollen. Und zwar wollte ich endlich Finnisch lernen. Ich kenne das Land gut, sehr gut sogar, und es wäre an der Zeit gewesen, daß ich die Sprache lerne. Von wegen! rief er aus. Ich meldete mich zu einem Finnisch-Kurs bei der Volkshochschule an, und schon in der ersten Stunde habe ich bemerkt, wie schwer mir das Lernen fiel. Und in der zweiten Stunde war ich überzeugt, daß ich das nie lerne. Es war zu schwer oder ich war zu alt oder sonstwas, sagte er und seufzte dazu. Er wischte sich noch einmal den Mund ab und ließ die Serviette auf den Tisch fallen. Dann stand er auf und ging vom Tisch.
    In seinem Zimmer zog er sich um für das Terraintraining. Einige Augenblicke lang war es ihm heiß im Kopf gewesen: Schon sehr lange hatte er nicht derartig sinnlos erfundene Geschichten erzählt. Weder kannte er Finnland noch hatte er jemals den Wunsch verspürt, Finnisch lernen zu wollen. Es war einfach nur ein riesiger Kopfquatsch. Oder hatte er Lust gehabt, der Wuppertaler Sekretärin eins auszuwischen? Vielleicht war es auch nur eine Auswirkung seines ewigen Gefühls von Unvollständigkeit, das ihn manchmal dazu trieb, sich die Komplettheit teuer erlügen zu müssen. Denn natürlich klagte er sich nun an und jammerte sich voll: Wie kam er dazu, irgend etwas aus der Luft zu greifen und eine Weile darüber zu reden, als sei es etwas Wirkliches? Abschaffel spürte

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